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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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quälende Frage nach dem Warum. Warum hatte er versagt? Warum nur war sein Traum gescheitert? Warum …?
    Die Antwort stand ihm plötzlich vor Augen – und das im wörtlichen Sinn.
    In düstere Gedanken versunken, hatte er gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, wo er sich befand. Er war nur weitergegangen, immer weiter – bis er mit Verblüffung bemerkte, wohin der Zufall ihn geführt hatte. Oder vielleicht, sagte er sich, war es ja auch mehr gewesen als bloßer Zufall, der seine Schritte gelenkt hatte. Womöglich hatte ja der Puck für ihn entschieden, der des Öfteren das verkörperte, was Horace selbst nicht tun oder aussprechen wollte.
    Er stand am Finsbury Circus.
    Auf der anderen Straßenseite des oval geformten Platzes, jenseits der Passanten und der Pferdegespanne, im dichten Nebel nur undeutlich auszumachen, ragte das alte Century Theatre auf, das vor rund einem Jahrzehnt kurz vor der Schließung gestanden hatte – bis ein bis dahin völlig unbekannter Ausländer namens Umberto Caligore es aufgekauft und neu eröffnet hatte. Heute war es unter einem anderen Namen bekannt, längst nicht nur mehr in Smithfield und im Osten von London, sondern weit darüber hinaus.
    Das Caligorium.
    Horace merkte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er hatte nach einer Antwort gesucht, nach einem Grund für sein Scheitern.
    Hier war er.
    Horace überquerte die Straße, widerwillig und doch von Neugier getrieben. In seinen letzten Jahren war das Century ein Schandfleck seiner Zunft gewesen, eine heruntergekommene Ruine – doch davon war nichts mehr zu sehen. Das mehrstöckige Gebäude hatte eine neue Fassade erhalten, wo sich einst der eher unscheinbare Eingang befunden hatte, prangte jetzt ein großes Portal, über dem mehrere Laternen einen geradezu riesig anmutenden Schriftzug beleuchteten: CALIGORIUM .
    Wie jedes größere Theater hatte auch dieses mehrere Eingänge für die verschiedenen Preiskategorien. Die Schlange vor der Kasse für die billigsten Plätze war beinahe endlos lang, reichte bis über das Ende des Gebäudes hinaus und um den halben Platz herum – offenbar würde die nächste Vorstellung in Kürze beginnen. Was, so fragte sich Horace Pence zum ungezählten Mal, war es, das die Menschen in Scharen in dieses Theater strömen und andere Bühnen vereinsamen ließ?
    Bislang hatte er nie das Verlangen verspürt, bei der Konkurrenz zu spionieren, hatte sich eingeredet, dass es ausreichen würde, wenn er nur immer bessere und schönere Stücke in sein eigenes Theater brachte. In diesem Moment jedoch überkam ihn das drängende Verlangen, wenigstens ein einziges Mal mit eigenen Augen zu sehen, was sich hinter der – zugegebenermaßen überaus imposanten – Fassade von Umberto Caligores Theater verbarg. Kurz entschlossen kramte er aus seiner Rocktasche zwei Geldstücke hervor und betrachtete sie nachdenklich auf seiner Handfläche.
    »Du willst das nicht wirklich tun, oder?«, fragte ihn der Puck, der auf der anderen Hand saß.
    »Ich fürchte doch«, gestand Horace. »Wenn ich das Theater schon schließen muss, möchte ich wenigstens wissen, was uns das Genick gebrochen hat.«
    »Wirklich?«, fragte der Puck, und Horace kam es vor, als würde ihn die Puppe tatsächlich fragend ansehen.
    »Was meinst du?«
    »Willst du das wirklich wissen?«, formulierte der Kobold seine Frage deutlicher, zur Verblüffung zweier Passanten, die gerade vorbeigingen.
    Horace seufzte und schüttelte den Kopf. Er würde sich abgewöhnen müssen, Zwiegespräche mit keinem anderen als sich selbst zu führen. Das Theater war eine eigene Welt, ein geschützter Raum – außerhalb davon mochte man allzu leicht in Bedlam oder an noch schlimmeren Orten enden. Er beschloss, sich zusammenzunehmen und versteckte den Puck unter seinem Mantel. Dann reihte er sich kurzerhand in die Schlange jener ein, die vor dem Eingang für die billigsten Plätze warteten – über zweihundert Menschen, die Dunkelheit und Nebel trotzten und begierig darauf warteten, in Umberto Caligores Welt eingelassen zu werden.
    Es war kalt.
    Horace fror erbärmlich in seinem dünnen Mantel und dem Schal, den er sich um den Hals geschlungen hatte. Entsprechend erleichtert war er, als die Reihe endlich an ihm war.
    »Was wird heute gespielt?«, erkundigte er sich bei der jungen Frau, die hinter der Glasscheibe des Kartenschalters saß.
    »Aida«, gab sie zur Antwort, »eine Oper, die im alten Ägypten spielt. Geschrieben hat sie ein Italiener namens
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