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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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Caligorium erwartet Sie …!«
    Es war eine kalte Novembernacht.
    Nebel lag in den Straßen Londons, Rauch drückte von den Schornsteinen und sorgte dafür, dass die gelb-grauen Schwaden, die in den Straßen hingen, so dicht wurden, dass der Schein der Gaslaternen sie kaum noch zu durchdringen vermochte. Die Droschken, die die Straßen auf und ab fuhren, waren nur noch als verschwommene Schemen wahrzunehmen, begleitet vom Geräusch dumpf klappernder Hufe. Feuchte Kälte durchsetzte die von Brandgeruch erfüllte Luft und kroch unter die Kleider – doch keiner der Männer und Frauen, die im weiten Oval des Finsbury Circus aufgereiht standen, wäre auf den Gedanken gekommen, deswegen umzukehren und nach Hause zu gehen. Sie waren nur aus einem einzigen Grund gekommen: um das zu sehen, was der Ausrufer so vollmundig ankündigte.
    In einen vornehmen Gehrock gehüllt, einen hohen Zylinder auf dem Kopf und einen Stock in den Händen, mit dem er eifrig gestikulierte, stand der Mann auf einem von zwei Laternen beschienenen Podest, und seine laute Stimme, die sich an Nebel und Kälte nicht im Geringsten zu stören schien, drang bis ans Ende der langen Schlange, die um den halben Platz herum bis hinüber zur Mündung der Bloomfield Street reichte.
    »Kommen Sie und sehen Sie mit eigenen Augen, ehrenwerte Gentlemen und hochgeschätzte Damen«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Das Caligorium ist ein Ort der Wunder! Ein Platz sagenhafter Mysterien, wie sie selten geworden sind in dieser Welt! Kommen Sie und staunen Sie! Treten Sie ein und sehen Sie, was das Genie des Professor Caligore bewerkstelligt hat!«
    Er hätte nicht so laut zu schreien brauchen.
    Längst hatte sich herumgesprochen, dass das alte Theater am Finsbury Circus eine Sensation beherbergte, eine Darbietung von solcher Güte, dass sie selbst die künstlichen Schneestürme und Vulkanausbrüche, die auf den extravaganten Schaubühnen des Londoner West End geboten wurden, vergessen machte. Zu Hunderten drängten die Menschen allabendlich durch die verschiedenen, nach Preisen getrennten Eingänge – und das, obwohl niemand eine rechte Vorstellung hatte von dem, was sich im Theater abspielte, sobald die Lichter erloschen und der Vorhang sich hob. Wer das Theater verließ, war anschließend nicht in der Lage zu schildern, was genau sich dort ereignet hatte, noch nicht einmal die Reporter des »Echo«, des »Daily Chronicle« oder der »Times«, die scharenweise in die Vorstellung geschickt wurden, fanden die rechten Worte, um das zu beschreiben, was auf der Bühne vor sich ging – so andersartig, so unerwartet und so unglaublich schien das zu sein, was es dort zu bestaunen gab. Ein Spektakel der besonderen Art, das längst nicht mehr nur die Bewohner des ärmeren Teils von London anzog, sondern auch immer mehr Besucher aus den wohlhabenderen Stadtvierteln anlockte – entsprechend hatten sich die Eintrittspreise verteuert.
    Als das Caligorium öffnete, hatte der Preis für einen Sitzplatz in der niedrigsten Kategorie noch einen halben Shilling betragen. Inzwischen waren es zwei Shillings, und es war abzusehen, dass es sich noch weiter verteuern würde, je mehr Menschen das Panoptikum des Professor Caligore zu sehen wünschten.
    Umberto Caligore!
    Der Mann, der das Caligorium ins Leben gerufen hatte, war mindestens ebenso geheimnisvoll wie seine Erfindung. Keiner im East End hatte ihn je zu Gesicht bekommen, niemand wusste, wie er aussah. Gleichwohl sah man jede Nacht im obersten Stockwerk des Theatergebäudes Licht brennen. Manche wollten auch eine Gestalt gesehen haben, die dort ruhelos auf und ab ging, und es ging das Gerücht, dass es der Professor wäre, der sich Tag und Nacht den Kopf über immer neue Attraktionen für sein Theater zerbrach und darüber weder Schlaf noch Ruhe fand, ein Getriebener seiner eigenen Kunst und Fertigkeit.
    »Treten Sie ein, ehrenwerte Gentlemen und hochgeschätzte Damen! Das Caligorium zeigt ihnen eine andere Welt! Das Caligorium lässt Sie die Wirklichkeit vergessen! Treten Sie ein und sehen Sie mit eigenen Augen, was Worte nicht beschreiben können! Das Caligorium ist so außergewöhnlich, so einzigartig und so erstaunlich, dass nur eine einzige Vokabel dafür existiert: das Caligorium!«
    Jemand aus einer Gruppe von Männern, die am Theatereingang und der Schlange der Wartenden vorbeiwollten, lachte laut.
    »Sie lachen, Sir?«, sprach der Ausrufer ihn sofort an. »Sie glauben nicht, dass Sie jenseits dieser Pforte wahre Wunder zu
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