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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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Augenblick fiel, fühlte Cyn Erleichterung.
    Eigentlich liebte sie es, auf der Bühne zu stehen und in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen, und Shakespeares »Sommernachtstraum« gehörte zu ihren Lieblingsstücken. Doch in letzter Zeit bereitete ihr das Spiel keine Freude mehr. Denn die Sitze des Theaters, das sich im Londoner Stadtteil Smithfield nahe der Bahngleise zum Bahnhof Broadstreet befand, waren fast alle leer.
    Lediglich in den ersten drei Reihen saßen ein paar Leute, aber auch sie sahen nicht so aus, als wären sie wegen des Stücks gekommen, sondern vielmehr, um der kalten Novembernacht zu entgehen, die draußen herrschte. Der schmiedeeiserne Ofen, der in der hinteren Ecke des Zuschauerraumes stand, verbreitete wohlige Wärme. Als sich der Vorhang noch einmal hob und das Ensemble des Theaters, das nur aus fünf Leuten bestand, auf die Bühne trat, war die Reaktion entsprechend zurückhaltend. Nur hier und dort klatschte jemand, ein anderer schnäuzte sich geräuschvoll, wieder ein anderer schien eben erst wach geworden zu sein.
    Der Vorhang senkte sich erneut, und Cyn hoffte, dass der gute Albert, der nicht nur der Hausmeister des Theaters, sondern auch verantwortlich für die Bühnentechnik war, Erbarmen zeigen und ihn nicht noch einmal öffnen würde. Sie atmete auf, als der uralte Samt, dem Staub und Motten bereits arg zugesetzt hatten, unten blieb. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten.
    Es war nicht gerecht.
    Einfach nicht gerecht …
    »Nicht traurig sein, Kleines.« Lucy, die neben der Arbeit als Kassiererin und Puppenspielerin auch als Köchin für das leibliche Wohlergehen der kleinen Theatertruppe sorgte, zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Es werden schon wieder bessere Zeiten kommen.«
    »Meinst du?« Cyn war nicht überzeugt. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen weg, verschmierte dabei die Schminke, die sie als Helena getragen hatte, zusammen mit einem eleganten weißen Kleid, das einst ihre Mutter auf der Bühne getragen hatte, als sie dieselbe Rolle spielte.
    »Ganz bestimmt.« Die beleibte Frau aus den Midlands, die zum Ensemble gehörte, so lange Cyn zurückdenken konnte, nickte, wobei ein wehmütiges Lächeln um ihre rosigen Züge spielte. »Weißt du noch, früher?«, fragte sie. »Als wir ›Romeo und Julia‹ spielten und der Applaus gar nicht mehr enden wollte? Als dein Vater Packer beschäftigen musste, damit die vielen Zuschauer überhaupt ins Theater passten? Oder als du deinen allerersten Auftritt hattest?«
    »Als Alice.« Cyn nickte. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen zum ersten Mal auf der Bühne gestanden hatte, mit langen blonden Locken und in einem blauen Kleid, und einem weißen Kaninchen nachgejagt war, das ihr Vater an langen Fäden über die Bühne flitzen ließ. Auch damals waren die Menschen begeistert gewesen, und die Zeitungen hatten geschrieben, dass es eine solch vollendete Illusion, ein solches nahtloses Miteinander von menschlichen Darstellern und Puppen nirgendwo sonst geben könne als im Penny Theatre an der Holywell Lane.
    Zehn Jahre waren seither vergangen.
    Zehn Jahre, in denen sich viel geändert hatte …
    »Nun komm.« Mütterlich legte Lucy den festen Arm um Cyns schmale Schultern. »Ich werde dir eine heiße Milch mit Honig machen, danach kannst du gut schlafen. Und morgen früh sieht vielleicht schon alles anders aus.
    Cyn nickte, wenn auch nur aus Höflichkeit. So viele Male zuvor hatte Lucys Hausmittel ihr Trost gespendet – etwa, wenn ihr auf der Bühne ein Fehler unterlaufen war oder sie ihren Text vergessen hatte. Sogar dann, wenn sie wieder einmal an ihre Mutter hatte denken müssen und sie ihr schrecklich gefehlt hatte, hatte der Geschmack von heißer, mit Honig gesüßter Milch dafür gesorgt, dass sich in ihrem Inneren ein Gefühl von wohliger Wärme ausgebreitet und sie sich gleich ein wenig besser gefühlt hatte. In dieser Nacht jedoch würden ihr auch Milch und Honig keinen Trost verschaffen, denn sie wusste bereits, was Lucy und die anderen Angestellten des Theaters noch nicht wussten …
    Albert, der ebenso hagere wie krummbeinige Hausmeister, auf den die gute Lucy heimlich ein Auge geworfen hatte, stieg soeben von seinem hohen Arbeitsplatz herab, von dem aus er die Kulissen betätigt und für stimmungsvolle Beleuchtung gesorgt hatte – ohne zu wissen, dass er dies heute zum letzten Mal getan hatte. Sie alle hatten an diesem Abend zum letzten Mal im Penny
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