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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand
Autoren: Ina Bruhn
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Gesichtsverletzungen.“
    „Hat man sie zusammengeschlagen?“
    „Ja, davon ist auszugehen, sonst müssten sie schon sehr unglücklich gestürzt sein.“
    „Und niemand hat etwas gesehen?“
    „Das weiß ich nicht. Wir haben die OP erst vor einer Stunde beendet.“
    „Und du bist dir ganz sicher, dass es DER Tony war?“
    Mein Vater nickt: „Ich habe den Nachnamen wiedererkannt.“
    Tony heißt Prezlewska mit Nachnamen. So heißen nicht gerade viele.
    Mein Vater steht auf und öffnet ein Fenster. „Weißt du etwas davon?“
    „Dass sie zusammengeschlagen worden sind? Nein, natürlich nicht!“
    „Es schien mir nur so auffällig. Gerade mal ein paar Tage nach dem Urteil.“
    „Ja, das ist megaauffällig, aber ich habe nichts damit zu tun!“
    „Nein, das will ich auch nicht hoffen.“
    „Jetzt mach aber mal halblang, Papa. So ein Typ bin ich doch nicht.“
    „Neulich schienst du aber ziemlich wütend über das Urteil zu sein.“
    „Das ist doch auch klar. Sie sind viel zu billig davongekommen. Aber die beiden Sachen müssen nicht unbedingt was miteinander zu tun haben. Tony und Christian haben es schon lange provoziert, sich eine Tracht Prügel einzuhandeln, und nicht nur auf unserer Schule. Sie sind ein paar hirnamputierte Idioten …“
    Okay, das war vielleicht nicht die glücklichste Formulierung in Anbetracht der nächtlichen Operation. Ich ziehe eine entschuldigende Grimasse und steige aus dem Bett.
    „Egal, was passiert, niemand verdient eine solche Behandlung“, sagt mein Vater. „Dafür haben wir ein Rechtssystem.“
    „Ganz deiner Meinung.“
    „Wirklich?“
    Ich bin gerade dabei, mich anzuziehen, und halte mit einem Fuß im Hosenbein inne. Als Schiefnase und der Rote Prügel bezogen, fand ich schon, dass sie es verdient hatten. Warum dann nicht Tony und Christian, die ihr Verbrechen genauso böswillig begangen haben und deren Hass genauso blind war?
    „Man kann nicht einfach immer weiter Prügel austeilen“, antworte ich. „Dann ist man selbst nicht besser als die.“
    Es ist mir egal, ob ich scheinheilig oder feige bin. Tony hat eine härtere Strafe verdient als Sommerferien im Schatten der Gefängnismauern, aber deshalb ist es noch lange nicht in Ordnung, dass er womöglich mit dem IQ eines Zirkusponys aus dem Koma erwacht.
    Der schweigsame Mann wirkt ziemlich gleichgültig. Er sitzt in seinem Bett und verzieht keine Miene, als ich ihm erzähle, was passiert ist. Juliane sitzt auf der anderen Seite des Betts. Auch sie wirkt nicht sonderlich überrascht.
    „Kann es sein, dass ihr das schon wisst?“, frage ich.
    Schulterzucken auf beiden Seiten. Rasmus starrt in die Teetasse in seiner Hand. Irgendwie erinnert er mich an ein altesWeib. Er strahlt ein Gefühl von Kamelhaardecke und Furcht vor der Welt aus.
    „Die Rächer des Engels stecken dahinter, stimmt’s?“
    „Woher soll ich das wissen“, zischt Juliane. „Frag Lasse.“
    „Warum glaubst du, dass er es weiß? Hast du mit ihm gesprochen?“
    „Ja, habe ich!“
    Juliane springt vom Bett auf. Rasmus gerät dadurch aus dem Gleichgewicht und ist kurz davor, umzukippen. Er sieht aus, als müsste er dringend mal nach dem Onkel Doktor rufen. Juliane hat in den letzten Wochen abgenommen. Ihr Schlüsselbein sticht über dem Rand ihres Oberteils hervor.
    „Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragt die Rentnerin.
    „Nein, danke.“ Ich stehe auf und gehe zu ihr. „Was hast du ihm gesagt?“
    „Sie dürfen erst ihr Abitur machen. Nennst du das gerecht?“
    Rasmus klettert mühsam aus dem Bett. Auch er hat abgenommen. Die Hosen schlottern um seine Hüften. Außerdem hat er immer noch eine rote Narbe an der Oberlippe. „Kannst du dich an diesen Typen erinnern, der bei seiner Facharbeit geschummelt hat? Das ist vielleicht so fünf oder sechs Jahre her?“
    Alle auf unserem Gymnasium kennen diese Geschichte. Irgendein Typ hatte eine fertige Arbeit im Netz gefunden und sie von vorne bis hinten abgeschrieben. Als er damit aufflog, sollte ein Exempel statuiert werden, also wurde er von der Schule geworfen. Er musste die Dreizehn an einem anderen Gymnasium wiederholen.
    „Er hatte niemandem etwas getan“, sagt Rasmus. „Er war einfach nur dumm und faul, aber sie haben ihn von einem Tag auf den anderen rausgeworfen. Denn, oh mein Gott, er hatte ja auch wirklich was ganz furchtbar Schlimmes angestellt!“
    „Aber Tony und Christian dürfen gemeinsam mit ihren Freunden ihr Abi feiern“, ergänzt Juliane verbittert. „Denen wollte man
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