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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand
Autoren: Ina Bruhn
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abgelaufen ist.
    Ich lasse sie los. Sie bleibt an der Mauer stehen und wartet darauf, dass ich gehe. Am liebsten würde ich schreien, dass sie sich verdammt noch mal endlich zusammenreißen und sich entscheiden soll, doch ich kriege kein Wort über die Lippen. Hinter uns sind schnelle Schritte zu hören. Ich drehe mich um und sehe, wie zwei Gestalten in Richtung Straße rennen. Obwohl es dunkel ist, kann ich deutlich erkennen, dass es Tony und Christian sind.
    Juliane ist schneller als ich und kommt einige Sekunden vor mir auf der anderen Seite des Gymnasiums an. Wir stehen in einer schmalen Gasse zwischen dem Schulhaus und dem angrenzenden Gebäude. Ein Treppenschacht führt zu einem Kellereingang hinab. An der Wand stehen Müllcontainer.
    Juliane rennt panisch hin und her, guckt hinter jeden Container: „Das waren Tony und Christian.“
    „Ja, aber das bedeutet nicht …“
    „Warum sind sie so schnell weggerannt? Was wollten die hier drinnen?“
    „Wahrscheinlich haben sie heimlich gekifft. Jetzt komm schon.“
    „Nein!“
    „Rasmus ist doch schon vor einer halben Stunde gegangen.“
    Sie dreht nervöse Kreise auf den Betonplatten. Ihre hohen Absätze hallen zwischen den Mauern der Gasse wider. „Ich spüre, das was nicht stimmt.“
    Jetzt bleibt nur noch ein Ort übrig und wir kommen beide gleichzeitig darauf.
    Der Kellerschacht.
    Als wir dorthinrennen, setzt Schneeregen ein. Schwere, nasse Flocken fallen auf die Betontreppe. An ihrem Ende leuchtet eine viereckige, grüne Lampe mit einem Piktogramm eines rennenden Strichmännchens. Darunter liegt Rasmus.

14. Mai
    Plötzlich ist er einfach da. Der Sommer. Er explodiert in einer Orgie aus Farben, Hitze und Fliederduft, noch ehe man sich überhaupt an den Frühling gewöhnt hat. Es ist erst vier Wochen her, dass der letzte Schneeregen fiel und ich meine behandschuhten Hände zusätzlich in der Jackentasche vergrub. Es war jene Nacht, in der wir hinter dem Gymnasium standen und auf den Notarzt warteten. Der nasse Schnee klatschte mir ins Gesicht, während sie ihn die Kellertreppe hinauftrugen. Juliane sprang in den Krankenwagen. Als sie sich neben Rasmus setzte, war er wach und nahm ihre Hand. Keiner von ihnen redete in diesem Moment mit mir, und Juliane meldete sich erst am nächsten Tag. Sie erzählte, dass Tony und Christian Rasmus vor dem Gymnasium aufgelauert hatten. Er hatte versucht, ihnen zu entkommen, indem er die Gasse entlanggerannt war und sich im Kellerschacht versteckt hatte, aber sie hatten ihn gefunden. Der Polizei gegenüber gaben sie zu, dass sie Rasmus geschubst hatten, behaupteten aber, dass es ein Unfall gewesen sei und er die Treppe hinabgestürzt wäre.
    „Diese feigen Arschlöcher“, fauchte Juliane, als ich eine Woche später ausführlicher mit ihr sprach. „Wenn es ein Unfall war, warum haben sie ihn dann einfach da liegen lassen? Sie haben ihn mit Absicht die Treppe runtergestoßen und ihm nicht geholfen.“
    Rasmus wurde schon nach zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Durch den Sturz hatte er eine Gehirnerschütterung und einige Schrammen davongetragen, aber das Schlimmste war wohl, dass er zwei Vorderzähne verloren hatte. Tony und Christian gaben nicht zu, ihn ins Gesicht geschlagen zu haben, sodass der unglückliche Sturz auch für die beiden ausgeschlagenen Zähne herhalten musste. Juliane glaubte ihnen auch das nicht, aber leider tat es die Polizei. An Tonys und Christians Klamotten waren keine Blutspuren gefunden worden, am Fuß der Treppe dagegen schon. Außerdem gab es keine Zeugen.
    „Wir hätten der Polizei einfach erzählen sollen, dass wir gesehen haben, wie sie auf ihn einprügelten.“
    „Aber das haben wir nun mal nicht“, wandte ich vorsichtig ein. Eine Woche nach dem Überfall war Juliane noch immer eine tickende Zeitbombe, die bei der kleinsten Provokation explodieren konnte.
    Sie sah mich an, als wäre ich ein völliger Idiot: „Erst haben sie ihn zusammengeschlagen und dann haben sie ihn absichtlich die Treppe hinuntergeworfen. Das hätten wir der Polizei gegenüber sagen sollen.“
    „Rasmus kann sich doch noch nicht mal daran erinnern, ob es genauso abgelaufen ist.“
    „Nein, aber das hätte für uns umso mehr ein Grund sein sollen, ihm zu helfen.“
    „Indem wir eine Falschaussage machen?“
    „Du solltest dich mal reden hören! Hast du etwa Angst davor, gegen die Zehn Gebote zu verstoßen und falsches Zeugnis zu reden gegen deinen Nächsten? Es ist doch vollkommen SICHER , dass sie ihn
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