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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand
Autoren: Ina Bruhn
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zusammengeschlagen haben. Aber jetzt ist es zu spät und wir müssen gemeinsam mit diesen beiden Versagern in der Schulkantine essen, als wäre nichts gewesen!“
    Ich konnte gut verstehen, dass sie das provozierte. Tony und Christian wurden noch vor der Gerichtsverhandlung auf freien Fuß gesetzt und saßen wieder auf ihren üblichen Plätzen am Tisch der Dreizehner. Ihre schwergewichtigen Freunde umgaben sie überall mit einem Schutzring, aber eigentlich war es egal, denn es traute sich sowieso niemand, etwas gegen sie zu sagen. Niemand außer Juliane. Am Tag nach unserem Streit brach sie ins Büro des Rektors ein und schaltete das Lautsprechersystem der Schule an. Mitten in der dritten Stunde konnte plötzlich das ganze Gymnasium Julianes racheerfüllte Stimme hören, die durch alle Lautsprecher schimpfte und fluchte – über ein Rechtssystem, das zwei „gewalttätige Psychopathen“ frei herumlaufen ließ, während sich deren Opfer nicht mehr vor die Tür trauten. Das ging drei Minuten so, bis das Mikrofon jäh ausgeschaltet wurde.
    Wahrscheinlich wurde Juliane zu einem Einzelgespräch mit Rektor Nielsen zitiert. Jedenfalls nahm sie nicht mehr an den letzten Unterrichtswochen vor den Ferien teil und kam erst am letzten Schultag zurück, an dem wiederum Tony und Christian nicht da waren. Sicherlich auf Anweisung des Rektors. Mit mir hat sie seither auch nicht gesprochen, und wenn ich anrufe, geht sie nicht ans Telefon. Rasmus schon, aber er redet nicht viel. Ich frage, wie es ihm geht, und er murmelt „sehr gut“, auf eine Art und Weise, die ihm überhaupt nicht ähnlich sieht. Er hat schnell neue Zähne bekommen und die Gehirnerschütterung ist wahrscheinlich auch weg, aber in die Schule kommt er trotzdem nicht zurück.
    Liv ruft an. Durch die Verbindungen ihrer Eltern hat sie taufrische Neuigkeiten aus dem Amtsgericht. Ich nicke und sage ein paar Mal Ja. Mein Vater beobachtet mich von seinem Gewächshaus aus, wo er gerade Tomaten pflanzt. Liv verspricht,Nick anzurufen und ein paar SMS zu verschicken. So dürfte sich die Nachricht innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Gymnasium verbreiten. Ich lege auf und setze mich an den Gartentisch.
    Mein Vater kommt aus dem Gewächshaus. „War das Liv? Ist das Urteil gefallen?“
    „Jeder von ihnen bekommt sechzig Tage. Ohne Bewährung.“
    „Also müssen sie ins Gefängnis?“
    „Ja, aber erst nach dem Abitur.“
    „Und du findest das nicht angemessen?“
    „Nein, eigentlich nicht. Sie können die Haftzeit schön in die Sommerferien verlegen, oder? Dann können sie trotzdem eine Ausbildung anfangen, wenn sie wollen, denn im September sind sie wieder draußen.“
    Mein Vater kommt zu mir und setzt sich. „Ja, das ist vielleicht tatsächlich unangemessen.“
    „Ich finde auch nicht, dass sechzig Tage besonders viel sind für das, was sie getan haben.“
    „Wäre es gerechter gewesen, wenn sie sechs Monate bekommen hätten?“
    „Nein, aber es wäre gerecht gewesen, wenn jeder von ihnen zwei Vorderzähne eingebüßt hätte.“
    Mein Vater lächelt. „Das ist im dänischen Rechtssystem wohl nicht vorgesehen.“
    Ich bin gerade aufgestanden und will ins Haus gehen, als mein Vater sich räuspert und fragt, warum ich oben bei mir ein Türschloss habe einsetzen lassen.
    „Es ist einfach nicht besonders cool, dass du in meinen Sachen wühlst, wenn ich nicht zu Hause bin.“
    „Meine Güte, ich habe doch nur sauber gemacht. So schlimm ist das doch wohl auch wieder nicht!“
    Ich gehe zum Tisch zurück und verwandle mich in einen übertrieben verständnisvollen Pädagogen, der die Sache so gut erklärt, dass sogar Dennis, achtundvierzig Jahre alt und sehr trotzig, es begreift.
    „Papa, ich bin nicht mehr zehn. Es kann sein, dass ich immer noch zu Hause wohne, aber ich habe auch ein Recht auf eine Privatsphäre.“
    Die Miene meines Vaters gibt mir nicht vollkommen recht, widerspricht mir aber auch nicht direkt. „Ein anderes Mal kannst du mir gerne Bescheid sagen, bevor du irgendwelche Handwerker ins Haus holst.“
    „Abgemacht.“
    „Übrigens kannst du deiner Mutter dafür danken, dass ich das Schloss nicht wieder habe entfernen lassen.“
    „Habt ihr miteinander geredet?“
    „Wir reden oft miteinander.“
    „Und worüber?“
    „Hauptsächlich über dich.“
    Das kann ich mir vorstellen. Es wäre toll, wenn ich Geschwister hätte. Dann könnten wir über unsere Eltern lästern und die Sache wäre wenigstens gegenseitig.
    „Deine Mutter fand die Sache mit
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