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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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    Kapitel 1
    Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel und erstarre. So beginnt es jedes Mal.
    Mein ganzer Körper kribbelt.
    Das Blut rauscht in meinen Ohren: ein leises Summen wie ein weit entfernter Insektenschwarm, und jede einzelne Zelle meines Körpers schreit: Rette ihn, rette ihn, rette ihn.
    Ich kann nicht anders, ich muss gehorchen.
    Er hat sich auf einem kitschigen Altar auf der Veranda eines alten Hauses niedergelassen: ein Marmorengel in einem Durcheinander von verblichenen Plastikwesen. Drei blaue Vögelchen aus Gummi, drei Eichhörnchen, drei Waschbären.
    Zusammen macht das neun – eine perfekte Zahl.
    Die kalte Luft fühlt sich schwer an auf der Haut, wie die dicken Wolldecken, die Dad früher immer von seinen Dienstreisen mitbrachte. Sie riecht sogar nach Wolle.
    Ich spähe durch das Fenster und suche nach Lebenszeichen im Haus. Von hier aus wirkt es verlassen. Ich sehe nur mein eigenes Gesicht, das sich verzerrt im staubigen Glas spiegelt – riesige graugrüne Augen, glattes dunkles Haar, irgendwie fremd.
    Ich schaue mich um, kann niemanden entdecken und strecke die Hand nach dem Engel aus. In den Sekunden, die verstreichen, bis ich ihn in der Hand halte, spüre ich ein leichtes Vibrieren, wie ein winziges Erdbeben. Die Welt bleibt stehen, es ist ganz still, und ich komme näher und näher. Nur noch ein paar Zentimeter. Millimeter. Wie in Zeitlupe berühre ich ihn, und der Moment ist heilig, donnernd, der einzige Moment, in dem alles einen Sinn ergibt. Den Engel sicher in meiner Tasche geborgen, renne ich in die Himmelsrichtung, in der die Sonne bereits unterzugehen beginnt, direkt ins tiefe Blau hinein. Das Gewicht in meiner Jackentasche hüpft bei jedem Schritt auf und nieder.
    Jetzt gehört er mir. Und ich ihm. Und wir uns.
    ***
    Ein paar Häuser weiter sehe ich, wie sich etwas hinter einer dunklen Fensterscheibe bewegt: ein fleckiger Vorhang, der hin und her schwingt, als ob er angehoben und dann schnell wieder fallen gelassen wurde.
    Ich taste nach der Figur in meiner Jackentasche. Hat mich jemand beobachtet?
    Jetzt höre ich Schritte. Irgendetwas fühlt sich verändert an – als ob die Luft hinter mir vibrierte. Jemand ist in der Nähe und beobachtet mich. Ich weiß es.
    Ich drehe mich um, um mich den Schritten zu stellen, die Hände zu Fäusten geballt, aber da ist nichts. Da ist niemand. Ich kann die Gedanken des Engels in meiner Tasche hören. Du bist in Sicherheit, Lo.
    Aber diese Straße – das ganze Viertel hier – jagt mir eine Heidenangst ein. Das merkwürdige, verknotete Gefühl dringt bis in meine Finger hinein. Ich weiß nicht einmal genau, wo ich bin. Nach der Schule bin ich einfach in irgendeinen Bus gestiegen, um neue Gegenden zu erforschen.
    Meistens fahre ich in die Viertel am Stadtrand, suche dort nach der High School oder im Einkaufszentrum nach dem Laden, der Baseballkappen verkauft, oder nach einem Restaurant, das meinem Bruder gefallen würde. Normalerweise lande ich dann in irgendeiner schäbigen Pizzeria. Magere Teenager mit strähnigen Haaren hängen in den Ecken herum. Ich bestelle vielleicht eine Cola, und dann sitze ich einfach so da, höre zu und warte, dass sie seinen Namen erwähnen: Oren.
    Sie haben es nie getan. Bisher.
    In letzter Zeit bin ich immer weiter gefahren. Ich habe mir die Schnellbuslinien herausgesucht und bin an der dritten Haltestelle ausgestiegen oder an der neunten oder der zwölften, weil diese Zahlen bedeuten, dass ich in Sicherheit bin. Diese Zahlen bringen die Dinge in Ordnung. Diese Zahlen führen mich näher zu ihm, dorthin, wo er war, wo es vielleicht noch irgendwelche Spuren von ihm gibt.
    Und heute, jetzt, bin ich genau, wo ich hinwollte: in einem traurigen, seltsamen Viertel von Cleveland, in einem Stadtteil, den ich noch nie gesehen habe.
    Mitten im Häuserkarree liegt ein verlassener Spielplatz. Zwei Schaukeln hängen an langen Ketten, eine von ihnen schwingt vor und zurück, ganz leicht, als ob noch vor kurzem jemand auf ihr gesessen hätte. Aber es muss schon fast acht Uhr sein, und es ist Donnerstagabend, also ist es zu spät und zu kalt, um noch draußen zu spielen. Die knubbeligen Wipppferdchen, die schlampig im Beton verankert sind, starren mich aus kalten, verrosteten Augen an.
    Plötzlich überkommt mich eine Erinnerung: Ich sitze auf der Schaukel. Mein Bruder Oren steht hinter mir und schubst mich an, immer höher, viel zu hoch. Ich lache und schreie gleichzeitig aus vollem Hals, ein Kinderkreischen,
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