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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand
Autoren: Ina Bruhn
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Metern liegt er vor uns. Der Schlittenhügel. Noch ist er jungfräulich und unberührt, aber in spätestens fünf Stunden werden die ersten Familien anrücken.
    Ein Lächeln breitet sich auf Rasmus’ Gesicht aus: „Na klar! Stimmt ja!“
    Nick macht die erste Abfahrt. Der Mülltonnendeckel erfüllt seinen Zweck. Rasmus saust Nick jauchzend hinterher. Der halb geschmolzene Schnee kriecht mir in den Kragen hinein und rinnt meinen Rücken hinab, aber es ist mir egal. Jetzt heißt es Schlittenfahren. Wir sind fünf Jahre alt, oder vielleicht zehn, und die Welt um uns herum existiert nicht mehr. Es gibt nur noch uns und den Schnee und den Hügel, den wir ganz für uns allein haben – genau wie man es sich als Kind immer erträumt hat. Die Schneeflocken im Gesicht, das Gerüttel in der Wirbelsäule. Kurz darauf sind unsere Finger taub und die Oberschenkel unter den klatschnassen Hosenbeinen steif gefroren, aber das ist egal, denn es ist lustig und es passiert genau jetzt, und morgen können wir dann gern wieder achtzehn sein.
    Ich folge Nick den Hügel hinauf. Rasmus saust bereits zum zweiten Mal bergab.
    „Wir waren vorhin in einer Schwulenbar“, sage ich.
    „Und, hast du jemanden kennengelernt?“
    „Hör doch auf. Es war Rasmus’ Idee. Er geht da anscheinend öfter hin.“
    „Ja, klar.“
    „Wie meinst du das?“
    Nick hält abrupt inne und sieht mich an: „Mateus, jetzt mal ehrlich. Das sieht man ihm doch sofort an.“
    Ich antworte nicht. Will nicht richtig zugeben, dass ich so schwer von Begriff bin. Ob alle anderen am Gymnasium wohl genauso gut informiert sind wie Nick?
    „Aber er hat es nie richtig gesagt.“
    „Nein, trotzdem ist es ziemlich offensichtlich.“
    Diese kindische Sturheit, die mich immer wieder reitet.
    Als wir den Hügel erreicht haben, holt Rasmus uns ein: „Hört mal, wenn wir zu zweit sind, kriegen wir noch mehr Fahrt drauf.“
    Er zieht mich zu sich auf den Deckel runter: „Setz dich in den Schneidersitz. Und rück ganz nach vorn!“
    Wir sitzen sehr dicht hintereinander. Ich versuche, mich zu befreien, aber Rasmus hält mich fest und schiebt den Deckel über die Hügelkuppe, indem er seinen Unterkörper vor- und zurückbewegt.
    „Hilf uns doch mal, Dicker.“
    Wir müssen vollkommen schwachsinnig aussehen. Wie zwei Duracell-Kaninchen in einem Bob.
    „Nick!“, rufe ich wütend, denn ich weiß, dass er sich hinter uns kaputtlacht.
    „Immer zu Diensten!“
    Nick schiebt uns an. Wir bekommen einen kräftigen Stoß und haben ziemlich viel Tempo drauf. Viel zu viel Tempo. Wir nehmen direkten Kurs auf die Bäume am Rand des Hügels.
    „Lenk!“, schreie ich.
    „Glaubst du etwa, wir hätten ein Lenkrad?“, lacht Rasmus.
    Ich versuche, mich zur Seite fallen zu lassen, aber Rasmus hat mich fest im Griff. Er jault mir ins Ohr wie eine Silvesterrakete. Diese Sache wird gehörig schiefgehen.
    „Fuuuck!“
    Wir rasen direkt in eine Buche hinein – mit mir als Stoßdämpfer. Ich höre Rasmus hinter mir laut lachen. Ein jäher Schmerz durchfährt mein Handgelenk.
    „Das war ja vielleicht irre!“ Rasmus rollt sich auf den Bauch. „Hast du dir wehgetan?“
    Ich schüttele den Kopf, obwohl der Schmerz wie ein Blitz durch meine Hand und meinen Arm zuckt.
    Rasmus wischt sich den Schnee vom Gesicht. Seine braunen Augen sind zugleich ernst und verschmitzt. „Ich stehe nicht auf Mädchen, Mateus. Das hast du schon kapiert, oder?“
    Nein, eigentlich nicht, aber jetzt, wo ich schon mal mit dem Lügen angefangen habe …
    Ich nicke.
    Zuerst werde ich vom Lärm wach. Drei Etagen unter mir parkt ein Lkw ein. Dieses Piep-piep-piep macht mich wahnsinnig. Dann höre ich Stimmen, Rumoren und einen Lift, der auf- und abfährt. Ich greife nach dem Kopfkissen, um es mir über die Ohren zu legen. Das war eine ganz schlechte Idee. Der Schmerz schießt erneut in mein Handgelenk und jetzt bin ich hellwach.
    Ich gehe unter die Dusche und wasche mir mit der linken Hand die Haare, während mein Vater und zwei seiner Freunde Möbel ins Haus schleppen. Mein Vater ist Arzt, aber die meisten seiner Freunde machen irgendwas ganz anderes. Mit Tom und Palle hat er vor vielen Jahren mal in einer Band gespielt.
    „Oh, hallo Mathias! Bist du das? Lang ist’s her.“
    „Hi Tom. Stimmt, aber ich heiße immer noch Mateus.“
    „Ach, stimmt ja, da muss dein Vater wohl gerade einen Totalausfall gehabt haben, als er dich so genannt hat.“
    „Vielen Dank.“
    „Ansonsten bist du ziemlich in die Länge geschossen, seit
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