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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand
Autoren: Ina Bruhn
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Parfüm bahnt sich seinen Weg durch die Armeejacke und den Schal hindurch. Es schwebt durch die feuchte Luft und macht mich wahnsinnig, denn genau diesen Duft trug sie auch auf dieser Schulparty, bei der Jonathan auftauchte, um mit ihr zu sprechen. Er machte Schluss, Liv weinte, und plötzlich ging ich auf meinen besten Freund los, den ich schon seit dem Kindergarten kenne. Vielleicht hatte ich mir eingebildet, ich müsste die Prinzessin retten. Oder ich hatte einfach nur genug von Jonathans fiesem Benehmen. Er trug keine Jacke. Sein Pullover war am Arm zerrissen, und als mein Schlag ihn genau dort traf, hatte ich Blut an der Hand. Wir stritten uns, wir prügelten uns und dann haute Jonathan ab. Liv weinte und verfluchte ihn, und dann beschloss sie, ihn zu vergessen. Plötzlich küssten wir uns, und siewar diejenige, die mir die Klamotten vom Leib riss. Es waren ihre Hände, die mich überall anfassten …
    Ich schiebe die Erinnerungen von damals von mir. Es ist eineinhalb Jahre her, und unsere Nacht im Bücherlager wird sich niemals wiederholen. Liv trägt immer noch Jonathans alte Klamotten. Sie besucht immer noch seine Eltern. Das können Nick und ich leider nicht von uns behaupten, obwohl wir Lars und Hannah eigentlich viel besser kennen als Liv. Worüber sie bei diesen Besuchen reden, weiß ich nicht. Vielleicht blättern sie in alten Fotoalben und sprechen darüber, wie sehr sie ihn vermissen.
    „Hast du heute Abend was vor?“
    Liv schüttelt den Kopf: „Meine Eltern sind nicht da und ich habe versprochen, auf Carl-Philip aufzupassen.“
    „Ist der nicht schon ein bisschen alt dafür?“
    „Kann sein. Aber meine Eltern hätten lieber, dass ich zu Hause bleibe.“
    „Also kommst du auch nicht zu Pernilles Geburtstag?“
    „Nee, ich habe abgesagt.“
    „Wir wollen danach noch weiterziehen.“
    „Ich habe einfach keinen Bock.“
    „Heißt das, du willst nie wieder feiern gehen?“
    „Kann dir das nicht einfach egal sein?“
    „Nee. Denn wenn du dich abends nicht mehr aus dem Haus traust, hat dieser Arsch doch gewonnen.“
    Livs Blick verliert sich im Öresund, wo ein grauer Himmel mit einem grauen Meer verschwimmt. Ich weiß, was sie in Wirklichkeit vor sich sieht: die Wohnung des Typen, in der sie aufwacht und plötzlich begreift, dass sie direkt in der Höhle des Löwen gefangen ist. Sicher sieht sie auch, was mit ihr passiert sein KÖNNTE . Die Vergewaltigung war so greifbar, dass sie der Angst danach nicht entkommen ist. Oder der Scham.
    „Gehst du immer noch zu dieser Psychologin?“
    „Nein. Ist auch egal. Die kann mir eh nicht helfen.“
    „Gibt es denn … irgendwas, was ich tun kann?“
    Liv wendet ihren Blick vom Horizont und sieht mich an: „Was sollte das denn sein?“
    „Ich könnte dich abholen, wenn du abends was vorhast. Und dich wieder nach Hause bringen.“
    „Aber das kannst du doch nicht jedes Mal machen, wenn ich abends was vorhabe.“
    „Kann ich wohl.“
    „Und was ist, wenn ich zum Training muss? Donnerstags spielen wir immer bis zehn.“
    „Dann hole ich dich ab. Bist du etwa nicht mehr beim Training gewesen, seit das passiert ist?“
    „Donnerstags nicht.“
    Basketball ist fast wie eine Religion für Liv. Es ist ihre große Leidenschaft und ihr Zukunftstraum. Die Spieler, die nicht regelmäßig zum Training kommen, hat sie immer verhöhnt.
    Wir gehen am Strand entlang. Der Sand ist schwer und dringt in die Schuhe ein.
    „Kommst du denn nächste Woche mit zu der Party an unserer Schule?“, frage ich. „Wenn ich komme und dich abhole und dich anschließend wieder nach Hause bringe?“
    „Vielleicht.“
    „Was ist eigentlich mit Majse?“
    „Was soll mit ihr sein?“
    „Habt ihr noch Kontakt?“
    „Wir schreiben uns ab und zu Mails.“
    Majse und Liv waren nicht gerade perfekte Freundinnen gewesen. Meiner Meinung nach war Majse ein bisschen anstrengend und nicht unbedingt die Schlauste. Sie war eines dieserMädchen, die peinliche Erlebnisse in besoffenem Zustand zu sammeln schienen. Aber Liv mochte sie.
    „Geht sie wieder aufs Gymnasium?“
    Liv schüttelt den Kopf. „Sie hat die Schule geschmissen.“
    „Schon wieder? Ist das nicht schon das dritte Mal?“
    Ich kann den höhnischen Ton in meiner Stimme nicht ganz verbergen und Liv wirft mir einen bösen Blick zu. „Sie will jetzt in einer Kochschule anfangen.“
    „Aha. Na ja, das passt sicher auch besser zu ihr.“
    Obwohl ich das überhaupt nicht beurteilen kann, denn ich habe Majse nie richtig
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