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Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Titel: Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Autoren: Laura Amy Schlitz
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Prolog
     

     
    Feuer
     
    Die Hexe brannte. Sie wälzte sich in Bergen von Decken hin und her, schwindelig vor Hitze. Es war Fieber und kein Feuer, das sie quälte, Fieber und die Albträume, die damit einhergingen.
    Schwer atmend schlug sie die Augen auf. Da war kein Geruch von Rauch, kein Knistern von Flammen. Ihr Schicksal hatte sie noch nicht eingeholt.
    An einer Kordel über ihrem Kopf hing ein Affe aus Messing mit einem fratzenhaften Gesicht. Ihre Finger umkrallten den Affenkörper und mit einem Ruck zog sie daran. Die Bettvorhänge öffneten sich. Die Kerzen in den Wandhaltern brannten gleichmäßig. Cassandra war froh darüber. Jetzt, da sie das Ende ihres Lebens erreichte, wurde sie wieder zum Kind und fürchtete die Dunkelheit.
    Mühsam hievte sie sich aus dem Bett und wankte zum Waschtisch. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und durchnässte dabei die Vorderseite ihres Nachthemds. Ihre Finger wanderten zu dem Medaillon aus kunstvoll verflochtenen Goldfäden, das an einer Goldkette um ihren Hals hing. Sie wünschte, sie hätte es abnehmen können, um es im Wasser zu kühlen. Aber der Verschluss der Kette war winzig und ihre Finger waren geschwollen. Cassandra stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ sich auf den Stuhl neben dem Frisiertisch fallen.
    Es war der Stein in dem Medaillon, der sie verbrannte. Die goldene Filigranarbeit umschloss einen Feueropal von der Größe eines Kräheneis, blutrot und von Adern durchzogen, die ihre Farbe wechselten. Seit siebzig Jahren hütete sie den Stein. Jetzt saugte der Opal sie aus: Er verbrannte sie und raubte ihr die Kraft.
    Einst nannte man ihn den Phönixstein …
    Cassandra hob ruckartig den Kopf. Das Zimmer war leer, aber die Worte klangen so klar, als hätte jemand sie direkt neben ihr ausgesprochen. Es war die Stimme Gaspare Grisinis, eines anderen Zauberers.
    Sie ahnten nicht, wie gefährlich er ist. Jetzt besitzen Sie ihn, aber irgendwann wird er Sie besitzen. Er wird Sie bei lebendigem Leib verbrennen. Einst nannte man ihn den Phönixstein …
    Cassandra fuhr sich mit den Fingern durch das verfilzte Haar. Grisini war in ihrem Traum aufgetaucht. Deshalb bildete sie sich ein, seine Stimme zu hören. Sie hatte von einer düsteren Stadt geträumt, von einem Labyrinth aus Häuserschluchten, halb im Nebel versunken: London, vermutete sie. Und Grisini hatte ihr aus dem Dunkel heraus zugelächelt.
    Merkwürdig, er war nicht allein gewesen, sondern in Begleitung von zwei – oder waren es drei gewesen? – schattenhaften Gestalten. Kleinen Gestalten … Kindern? Warum Kinder? Wieder glaubte sie, Grisinis Stimme zu hören: Wie der Vogel Phönix geht der Stein in Flammen auf. Ich habe seine Geschichte studiert und sein Geheimnis gelüftet. Sein Feuer wird Sie vernichten, es sei denn … Es sei denn. Grisini hatte die Warnung vor beinahe vierzig Jahren in Venedig ausgesprochen, aber Cassandra erinnerte sich an jedes Wort ihres Streits. Sie war herumgewirbelt und hatte ihm ins Gesicht geschrien: »Wenn auf dem Stein tatsächlich ein Fluch liegt, warum haben Sie dann versucht, ihn mir zu stehlen? Gran Dio, ich werde Sie bestrafen …«
    Sie hatte ihn bestraft. Im Gegensatz zu ihr hatte Grisini zwar die dunklen Künste studiert, doch sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihre Zauberkräfte waren stärker als seine. Als sie mit ihm fertig war, befleckte sein Blut die Böden des Palazzo. Trotz der späten Stunde läutete sie nach den Dienstboten und befahl ihnen, alle Spuren zu beseitigen, aber vergeblich: Grisinis Blut zog in den hellen Marmor ein und hinterließ einen Fleck. Im folgenden Monat hatte sie den Palazzo verkauft.
    Sein Feuer wird Sie vernichten, es sei denn …
    Cassandra seufzte. Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn den Satz beenden lassen. Sie glaubte, Grisini wieder vor sich zu sehen. So wie damals, vor siebenunddreißig Jahren – guter Gott, was für ein junger Mann! Sie war sechsundvierzig gewesen, er erst dreiundzwanzig und unglaublich gut aussehend mit seinen wachen Raubvogelaugen und dem spöttischen Lächeln … Ihre Miene verfinsterte sich weiter. In ihrem Traum hatte Grisini nicht jung gewirkt, sondern wie ein Sechzigjähriger, eine abgehalfterte, schäbige Vogelscheuche von einem Mann.
    Was, wenn sie die Wirklichkeit gesehen hatte? Was, wenn Grisini ihr so erschienen war, wie er heute aussah, und an dem Ort, an dem er sich gerade befand, in London? Falls man dem Traum glauben durfte, sollte sie ihn womöglich
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