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Perfektes Timing

Perfektes Timing

Titel: Perfektes Timing
Autoren: Lindsay Gordon
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Der Waldmann
    Charlotte Stein
    Er lebt in einem Wohnwagen im Wald, das weiß ich. In welcher Jahreszeit ich auch zu meinem kleinen Häuschen mitten im Nichts fahre, er ist da. Daher muss er wohl da leben und Gott weiß was machen. Vermutlich ist er ein Perverser oder Geisteskranker, und ich habe schon lange die Befürchtung, dass ich eines Nachts aufwachen werde, um herauszufinden, dass er ein Eichhörnchen umgebracht und in meiner Küche deponiert hat.
    Oder es kommt noch schlimmer. Ich denke da an Straw Dogs – Wer Gewalt sät und Beim Sterben ist jeder der Erste.
    Und doch habe ich keine Angst, als ich eines Morgens aufwache und er in der Tür meines im Halbdunkel liegenden Schlafzimmers steht. Ich habe keine Ahnung, warum dem so ist – ich sollte mich wenigstens erschrecken –, aber stattdessen ignoriere ich mein Bauchgefühl und reibe mir verschlafen die Augen.
    Er sieht im Türrahmen riesig aus mit seinen breiten Schultern, die gerade so hindurchzupassen scheinen, und ist unglaublich groß gewachsen. Er wirkt wie ein Höhlenmensch auf mich, und sein Gesicht ist größtenteils von dicken, zerzausten schwarzen Haaren verdeckt. Die Hände, die aus den Ärmeln seines karierten Holzfällerhemdes herausschauen, könnten fast Bärenpranken sein.
    Aber ich habe keine Angst. Und anscheinend habe ich auch keinen Grund dazu, denn er dreht sich einfach wieder um und geht. Und als ich mich auf der Suche nach Hinweisen dafür mache, dass er wirklich da gewesen ist, kann ich keine finden.
    Ich habe nie irgendjemandem von ihm, dem Waldmann, erzählt. Francie fragt mich Dinge wie: »Hattest du einen schönen Urlaub in deiner Eremitenkemenate?« Und ich bestätige, dass es super gewesen ist, dass ich viel geschafft und Eichhörnchen gesehen habe. Doch ich berichte ihr nie von dem haarigen Irren, der irgendwo in der Nähe in einem Wohnwagen haust.
    Und ich werde ihr auch niemals anvertrauen, was passiert ist, obwohl es sich durchaus um ein erzählenswertes Ereignis handelt. Er stand einfach in der Schlafzimmertür und sah mich mit seinen großen, ruhigen Augen an . Neben dem schwarzen Haar haben seine Augen sehr blass gewirkt, wie Teiche, die in seinem Granitgesicht eingelassen sind.
    All das weiß ich, weil er dasselbe wieder macht, als ich mich das nächste Mal dort aufhalte, und ich eine weitere Gelegenheit bekomme, ihn zu mustern. Dieses Mal setze ich mich im Bett auf und starre ihm direkt in seine hellen, wässrigen Augen. Und jetzt habe ich nicht nur keine Angst, sondern verspüre das genaue Gegenteil. Komm doch rein, denke ich. Komm her und tu oder sag, was du tun oder sagen willst.
    Aber das tut er nicht, und ich sollte mich vermutlich darüber freuen, denn das sind verrückte und gefährliche Gedanken. Allerdings kann man das, was er da tut, durchaus auch als verrückt und gefährlich bezeichnen. Was wäre denn, wenn ich wirklich der Auffassung wäre, dass er ein Irrer ist, und eine Keule unter meinem Kissen deponiert hätte? Oder eine Armbrust?
    Es würde bei diesem menschlichen Monolithen bestimmt eine Reaktion hervorrufen, wenn ich mit einer Armbrust auf seine Brust ziele. Dann müsste er etwas sagen, beispielsweise: »Sie haben ein Gasleck.«
    Denn es ist offensichtlich, worum es dabei geht. Es wird etwas Langweiliges und Alltägliches sein, das er nicht aussprechen kann, weil er geistig irgendwie zurückgeblieben oder stumm ist. Ersteres kann ich wahrscheinlich ausschließen, denn in seinen Augen liegt zweifellos Scharfsinn, aber Letzteres wäre durchaus möglich.
    Vielleicht hält er mich aber auch für eine dumme Stadtbewohnerin, die es verdient hat, bei einer gewaltigen Gasexplosion ums Leben zu kommen.
    Oder ich bin einfach nur eine Idiotin, und er wartet die ganze Zeit darauf, dass ich ihn etwas frage, wie zum Beispiel: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Vermutlich wurde er einfach nur vor Kurzem bewusstlos geschlagen, ist von der Gehirnerschütterung immer noch benommen und möchte, dass ich ihn ins nächste Krankenhaus bringe.
    Was für eine Person, die nicht wirklich an Dinge glaubt, die in einem Film mit dem Titel Der Waldmann hat perversen Sex mit einer Stadtbewohnerin , überaus vernünftig klingen. In der Filmversion würde in dem Moment, in dem er in meiner Schlafzimmertür steht, Pornomusik erklingen, aber das hier ist mein wirkliches, langweiliges Leben. Deshalb wird so etwas jetzt nicht passieren, das kann ich Ihnen versprechen. Ich möchte das eigentlich auch gar nicht, weil das nämlich
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