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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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kann.
    Dann sehe ich in einiger Entfernung einen Steinzwerg, der von Rosen überwuchert wird, stürze zum Beet, hebe ihn ächzend hoch und lasse ihn auf Ivans Kopf fallen.
    Ende.
    Meine Augen sind ganz trocken, als ich die Dose aufhebe und in meine Tasche stecke. Man weiß ja nie. Dann fällt mir noch etwas ein. Ich greife in Ivans Tasche und hole das Kästchen hervor. Öffne es und gucke die winzige Schlange an.
    »Willst du hier raus?«, frage ich. »Ich schätze, bald wird hier alles Wald sein.«
    Ich lege das Kästchen mit dem aufgeschlagenen Deckel ins Gras. Die Schlange kriecht über den Rand und verschwindet zwischen den Grashalmen.
    »Das war es«, sage ich und wische mir übers Gesicht.
    Dann höre ich ein leises Rascheln. Ich hocke mich hin und sehe, dass die Schlange wieder da ist. Ich halte ihr meine Handfläche hin. Wenn sie drauf geht, hebe ich sie hoch, denke ich.
    Es kitzelt, als sie sich auf meiner Handfläche zusammenrollt. Ich überlege, ob ich sie wieder ins Kästchen setzen soll, doch dann kriecht sie in meinen Ärmel und ich schiebe das leere Kästchen samt Deckel mit dem Fuß weg.
    »Ksü«, sage ich laut. »Was machen wir jetzt mit Ivan?«
    Ich spüre die Schlange auf meiner Haut, Unterarm, Oberarm, Schulter, Hals.
    »Nicht kitzeln«, bitte ich. Dann drehe ich mich zu Ivans Körper um und erstarre. Das Gras, in das er gefallen war, eben noch kurz, steht bereits kniehoch und verbirgt ihn ganz.
    Der Wald, merke ich, kümmert sich auch um die Toten.
    Anstatt mir auf der hinteren Seite des Grundstücks ein Loch in der Hecke zu suchen, ändere ich plötzlich die Richtung und laufe nach vorne, dort, wo die Rosensträucher gerade von Kletten überzogen werden. Ich halte Kurs auf das gusseiserne Tor, drücke mich dabei an die Bäume, damit man mich nicht vom Haus aus auf der von Scheinwerfern beleuchteten Rasenfläche entdecken kann. Je näher ich komme, desto merkwürdiger fühlt es sich an. Ich kann nicht sehen, was sich auf der anderen Seite des Tors befindet, denn es verschwindet in der Dunkelheit, die im Kontrast zu den beleuchteten Flächen besonders düster wirkt.
    Im ersten Moment habe ich das Gefühl, dort eine lebendige Wolke zu sehen oder ein riesiges schlafendes Tier. Ich schrecke zurück, drücke mich an den Zaun, bewege mich wieder vom Tor weg. Dann bleibe ich stehen und schaue angestrengt auf die schweigende, atmende Masse.
    Es ist kein Tier und keine Wolke, es sind Menschen. Sie stehen dicht beieinander, es müssen ganz viele sein, sie rühren sich nicht, etwas flattert über ihren Köpfen. Ich kneife die Augen zusammen. Es ist die Haarklammer, an der ich mein früheres Gesicht erkenne. Es ist mein Foto aus dem Lyzeumsjahrbuch, ein Gesicht, das mir schon fremder geworden ist als jemand, den ich noch nie getroffen habe. Es guckt mit runden, aufgerissenen Augen von einem riesigen Transparent. Ich entdecke auch kleinere Schilder, auf denen steht »Hilf mir, kleine Phee«, »Rette uns« und »Lass unsere Welt nicht untergehen«.
    Ich schlucke. Ein riesiger Kloß setzt sich in meinem Hals fest. Ausgerechnet jetzt, beim Anblick dieser handbemalten Buchstaben, könnte ich losheulen. Aber ich weiß, dass ich es nicht tun darf. Sie dürfen mich nicht entdecken. Vielleicht würden sie mich auch nicht in Stücke reißen, aber ich kann die Wucht ihrer Erwartungen und Enttäuschungen nicht ertragen, geschweige denn erfüllen.
    Ich muss einfach ganz unauffällig über den Zaun klettern und davonrennen.
    Ich schaue hoch. Spitze Zacken ragen in den Himmel, umwickelt mit Stacheldraht, der sicher erst in der jüngsten Zeit hinzugekommen ist. Selbst wenn ich es schaffen würde, dort hochzuklettern, würde ich aufgespießt und zerfetzt oben bleiben müssen. Was auch immer ich mir gedacht hatte – ich bin eine Gefangene wie eh und je.
    Ich drücke mein Gesicht gegen den kalten Zaun. Ich kann nicht mehr, denke ich. Ich will zurück in den Wald. Ich will nicht mehr hierbleiben.
    Wenn ich meine Flügel noch hätte, würde ich dann darüberfliegen können?
    Und dann höre ich, wie jemand leise meinen Namen ruft.
    »Kojote«, sage ich. Er steht auf der anderen Seite des Zauns und schaut mich an. Seine hellen Augen leuchten wie bei einer Katze. Er hat die Hände in den Hosentaschen, seine Haare sind jetzt neonblau und zurückgekämmt und er grinst wie früher.
    Ich stelle keine dummen Fragen. Ich frage nicht, was er hier macht, wie es ihm so ergangen ist, warum seine Haare so blau sind und was das mit dem
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