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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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die Tür lautlos hinter mir. Ich muss dringend zu Ksü und Ivan und anschließend werde ich auch bei Ingrid und Reto vorbeischauen. Ein paar letzte Worte sind fällig.
    Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Obwohl es tiefste Nacht ist, schläft das Haus immer noch nicht. Ich höre Stimmen und Schritte, permanentes Kommen und Gehen, bloß hier oben ist es leise, vielleicht wollen sie mich in Ruhe schlafen lassen. Ich denke an meinen Spaziergang mit dem Kind zurück, an die Gänge, die ich dabei entdeckt hatte. Hier muss irgendwo ein Notausgang sein. Ich schließe die Augen, versuche, mich zu erinnern. Dann weiß ich wieder, wohin ich gehen muss.
    Eine versteckte Tür führt hinaus auf einen winzigen Balkon, von dem sich eine Wendeltreppe hinunterschlängelt. Es ist kühler geworden. Meine Finger, die sich am Geländer festkrallen, werden sofort kalt.
    Die Stufen sind schmal und ich habe das Gefühl, dass die ganze Konstruktion wackelt. Ich steige hinab, halte jedes Mal inne, wenn es quietscht.
    Wovor habe ich Angst? Dass sie mich aufhalten könnten?
    Ich atme aus, als ich den Boden unter den Füßen spüre. Von unten sieht die Anlage aus wie ein kleiner Park. Die Blumenbeete werden langsam überwuchert. Kleine Nadelbäume mit noch zarten, weichen Nadeln verdrängen langsam die sorgfältig zurechtgeschnittenen Rosen.
    Ich versuche, mich zu orientieren. Dann laufe ich in Richtung des weiter entfernten Zauns.
    Als ich Schritte hinter mir höre, renne ich schneller. Jemand verfolgt mich. Bis seine Stimme meinen Namen ruft. Ich bleibe sofort stehen, drehe mich um und er prallt gegen mich.
    »Ivan«, sage ich, nicht wirklich überrascht.
    Beim Zusammenstoß sind wir beide zu Boden gegangen. Er steht als Erster auf und gibt mir die Hand, um mich hochzuziehen.
    »Was machst du hier?«, frage ich atemlos.
    »Wo willst du hin?«, fragt er gleichzeitig.
    »Ich will hier weg«, sage ich schnell. »Ich wollte zu euch. Ich will zu Ksü. Ich habe mir Sorgen gemacht. Wie gut, dass du da bist.«
    Er hält immer noch meine Hand. Seine Finger sind eiskalt und er klammert sie so fest um meine, dass es wehtut. Ich sehe in sein Gesicht, die versteinerten Gesichtszüge, aufeinandergepresste Lippen. Ich würde sie gern mit meiner freien Hand berühren, aber als ich sie anhebe, schreckt er zurück, wobei er mich mit der anderen Hand immer noch festhält.
    »Auf wessen Seite bist du jetzt?«, frage ich. »Bist du noch bei dem, was von der Normalität übrig geblieben ist? Oder zurück bei deinen Wurzeln, den Freaks?«
    Er lächelt schmallippig.
    »Okay, dann rede halt nicht mit mir. Lass mich los und zeige mir einfach den Ausgang.«
    Seine Finger, die meine Hand halten, sind wie aus Stahl. Ich versuche, wenigstens meinen Daumen zu befreien und damit über seine Hand zu streicheln.
    »Hilfst du mir?«, frage ich. »Wenigstens dieses eine Mal?«
    Ich würde am liebsten die Augen schließen, weil ich weiß, was jetzt kommt.
    Er schüttelt den Kopf.
    »Und du lässt mich nicht gehen?«
    Er schüttelt wieder den Kopf.
    »Das warst du, der mich ans Dementio verraten hat«, sage ich. »Hast mich zu meinen Großeltern geschickt. Ich hatte sie verdächtigt, sogar Kojote. Aber das waren sie nicht. Das warst du. Dann hast du den begehrten Job bekommen.«
    »Ich habe ihn nicht deswegen bekommen«, sagt Ivan und ich bin froh, dass er aufgehört hat, sich durch Kopfschütteln zu verständigen, und endlich einen vollständigen Satz zu mir sagt.
    »Sondern aufgrund deiner Qualifikation.« Keine Ahnung, warum meine Stimme dabei so spöttisch klingen muss.
    »Ja«, sagt er. »Und ich bin der einzige Normale, der den Zugang zum Wald benutzt hat. Ich hatte eure Welt betreten und wieder verlassen und war bereit, andere an meinen Erfahrungen teilhaben zu lassen.«
    »So, so«, sage ich. »Und, konntest du wenigstens wichtige Informationen weitergeben?«
    »Ich habe es immerhin geschafft, dass sie mir zuhörten. Und mir glauben, dass du gefährlich bist. Alle denken, die Pheen und der Wald stehen nur für ein paar Bäume, die die Stadt bedrängen. Dass ihr in Wirklichkeit mit unserem Unterbewussten spielt, wie ihr wollt, das wollte keiner glauben bis auf den Anstaltsleiter. Immerhin konnte ich sie überzeugen, dir die Augen und die Hände zu verbinden.«
    »Ach, du warst das«, sage ich. »Aber was hast du davon? Macht es deine Eltern wieder lebendig? Geht es Ksü dadurch besser?«
    Sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz und ich denke, endlich sehe ich den
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