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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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meine Schultern von hinten mit seinen Ärmchen. Ich stehe langsam auf, das Kind hängt wie ein Rucksack da und ich sage: »Aber wenn du mir den Hals zudrückst, werfe ich dich ab.«
    Ich springe in dieses Quadrum hinein, gefasst auf die Flammen, die mir bestimmt gleich das Gesicht versengen, lande aber auf dem feuchten Boden mit der Nase im Laub. Ich bin glücklich – der Wald ist noch da, grün und unversehrt. Es ist der Wald aus der Vergangenheit, den ich noch nicht angezündet habe.
    Das Kind sitzt neben mir und schaufelt das Laub mit beiden Händen zusammen und wirft es lachend in die Luft.
    »Steh auf, wir gehen weiter«, sage ich. »Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
    »Mama auch hier«, sagt es streng.
    »Zieh Leine«, sage ich erschöpft.
    Es setzt sich auf den Boden, sperrt den Mund auf und beginnt zu heulen. Es ist ein fürchterliches Geräusch. Ich halte mir die Ohren zu, aber es bringt nicht viel. Es geht mir trotzdem durch Mark und Bein.
    »Hörst du sofort auf!«, brülle ich zurück und versuche, es an einer Hand hochzuziehen.
    Es reißt seine Hand weg, springt auf die Füße und rennt davon. Ich überlege, ob ich hinterherlaufe, aber es ist blitzschnell wie ein Hase zwischen den Bäumen verschwunden. Ich habe keine Chance, es wiederzufinden. Ich akzeptiere es sofort. Eine Last weniger. Es ist nicht meine Schuld. Ich habe schon genug mit der aktuellen Version von mir zu tun.
    Ich bin erleichtert, dass der Wald, der frühere jedenfalls, mich nicht rausschmeißt, sondern mich wohlwollend aufnimmt. Keine Zweige peitschen mir ins Gesicht, das Gras fällt zur Seite und lässt mich durch, ich rutsche auf dem feuchten Laub nicht aus, ich habe das Gefühl, den Weg zum Haus genau zu kennen. Ich laufe drauflos und erst nach ein paar Schritten fällt mir ein, dass ich mir überhaupt keine Sorgen um das Kind mache und deswegen ein schlechtes Gewissen haben müsste. Habe ich aber nicht. Es kommt schon zurecht, denke ich. Schließlich war es schon in schlimmeren Gegenden unterwegs.
    Es ist genau das Haus, wie ich es in Erinnerung habe, aus dicken Holzstämmen, die Veranda mit den feuchten Brettern, diesmal hängt nichts zum Trocknen über das Geländer, weil es nämlich gerade regnet. Ich registriere, dass es der erste Regen überhaupt ist, den ich im Wald erlebe, und laufe schneller, weil es mir in den Kragen tropft und meine Schuhe blitzschnell voll mit Wasser sind. Ich laufe die Treppenstufen hoch und klopfe an die Tür, als wäre es nicht das Haus meiner Mutter, das ich betreten möchte, als müsste ich erst einmal um Erlaubnis bitten. Dann warte ich aber doch keine Antwort ab, reiße die Tür auf und stolpere hinein.
    Sie sitzen am Tisch und essen, Laura, Kassie und Jaro. Bin ich auch dabei? Zum Glück nicht, mein Platz am Tisch ist leer. Allerdings ist davor gedeckt: Es steht ein Teller da, daneben liegt ein Löffel. Der Teller ist leer.
    Meine Geschwister springen auf, als ich hereinkomme. Laura bleibt sitzen und ich kann meinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. Ich will jetzt nicht daran denken, dass es eben gar nicht die Gegenwart ist, in die ich hereingestolpert komme. Hier sind sie alle wohlauf und sie freuen sich, mich zu sehen. Die Zwillinge fallen mir nacheinander um den Hals, ich spüre die Wärme ihrer etwas feuchten, duftenden Haut, die Kraft ihrer mich umschlingenden Arme, ihr Gewicht, mit dem sie sich ohne jede Rücksicht an mich hängen. Es ist so lange her, dass ich sie gesehen habe, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber jetzt kommt es mir vor, als ob sie etwas größer und schwerer geworden sind. Ich umarme sie beide gleichzeitig und drücke sie fest an mich. Als ich wieder aufsehe, steht Laura vor mir und ich falle ihr in die Arme.
    »Verzeih«, sage ich und drücke meine Stirn gegen ihre Schulter. »Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, verzeih.« Kann sie denn wissen, was gemeint ist? Sie scheint mich zumindest zu verstehen.
    »Ist gut«, sagt sie. »Setz dich und iss mit uns.«
    »Ich bin so blöd gewesen«, sage ich. »Ich habe alles kaputt gemacht.«
    »Nein«, sagt sie. Erstaunt sehe ich, dass sie lächelt.
    »Aber der Brand?«, frage ich. »Ist der Wald nicht verbrannt?«
    »Nein«, sagt sie, streckt die Hand aus und wischt mir mit dem Zeigefinger über die Nase. Dann zeigt sie mir die Fingerkuppe, die sich schwarz verfärbt hat. »Aber du musst aufpassen«, sagt sie.
    Ich will weiter fragen, worauf ich jetzt genau aufpassen soll und warum sie mir das sagt, aber sie
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