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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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er, mich von unten betrachtend. Sein Bart liegt wie ein Schal um seine Schultern und ich kämpfe gegen den albernen Wunsch, mal kurz daran zu ziehen. Ich fürchte, dass meine neue Selbstbeherrschung Risse bekommt und ich sehr bald Dinge tun werde, die ich noch bereue. Ich darf hier nicht länger bleiben.
    »Wirklich?«, frage ich.
    »Das ist leider immer so.« Er seufzt und schiebt den Bartzipfel auf der Schulter zurecht. »Sie haben ein gutes Herz und denken an die Kinder der Normalität, deren Welt zusammenbricht. Sie denken aus nachvollziehbaren Gründen nicht an die Kinder der Freaks, denen der Zugang zur Ausbildung und zu einem würdigen Leben lange Zeit weitgehend verwehrt wurde. Diese Kinder erwartet jetzt eine strahlende Zukunft, sie brauchen sicher kein nachträgliches Mitleid. Denken Sie dann wenigstens an Ihre hochverehrte Frau Mutter. Welches Leid musste sie erfahren? Wer weiß es besser als Sie?«
    Ich weiß es eigentlich gar nicht, denke ich. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger weiß ich über das angebliche Leid meiner Mutter. Oder desto weniger bin ich geneigt zu glauben, dass irgendjemand außer ihr irgendetwas von ihrem Leid versteht. Oder überhaupt irgendetwas über sie weiß. Sie hat sicher für alles, was sie tat, ihre Gründe gehabt. Und irgendwann werde ich sie herausfinden.
    »Ich möchte nicht, dass meine blöden Fotos hier rumhängen«, sage ich. »Das ist unglaublich albern, verstehen Sie das?«
    »Ja, das verstehe ich.« Er lächelt mich an. »Sie sind eine echte Phee. Sie mögen kein Aufheben um sich machen. Sie sind nicht eitel. Das alles sind großartige Eigenschaften. Aber wir brauchen Sie. Dass Sie Ihre eigene Hinrichtung überlebt haben, sorgt dafür, dass wir alle Berge versetzen können, um die alte Ordnung zu zerstören.«
    »Professor Melchior«, werfe ich in seine Atempause hinein. »Erinnern Sie sich an Ihren Studenten Ivan Okasaka?«
    »Ob ich mich erinnere?« Er wirft den Bart empört von einer Schulter zur anderen. »Ob ich mich an einen meiner begabtesten Studenten erinnere? Armer junger Mann mit einem unglaublichen Schicksal. Ebenfalls ein Opfer der Normalität – wenn Sie noch ein Beispiel brauchen, um den Verbleib in dieser Villa ertragen zu können.«
    »Haben Sie in der letzten Zeit irgendetwas von ihm gehört?«, frage ich. Mein Herz klopft plötzlich so, dass ich das Blut in den Ohren rauschen höre. Ich gebe mir größte Mühe, so zu sprechen wie bisher, bin mir aber dessen bewusst, dass meine Stimme jetzt ganz verändert klingt, hoch und aufgeregt.
    »Wie schön, dass Sie sich nach ihm erkundigen.« Professor Melchior sieht mich gütig an. »Früher habe ich mich oft gefragt, was mit ihm passiert ist. Ich hatte gehört, dass er und seine Schwester spurlos verschwunden waren. Ich befürchtete ehrlich gesagt das Schlimmste.«
    Er weiß nicht, dass Ivan mit uns im Wald war, denke ich. Nach seiner Rückkehr ist Ivan offenbar nicht mehr in die Uni gegangen. Oder hat er es versucht – und war plötzlich nicht mehr normal genug?
    »Waren Sie denn die ganze Zeit gut zu erreichen?«, frage ich vorsichtig. »Wenn er wieder da gewesen wäre, hätte er Gelegenheit gehabt, Sie wiederzufinden?«
    »Wie gesagt, ich bekam sehr bald nach unserem Kennenlernen in meinem Büro ein Berufsverbot und alle Studenten ohne ID-Armband wurden exmatrikuliert. Nicht alle hatten meine Privatadresse… Nicht alle wollten eine Verhaftung riskieren.
    »Ivan hatte ein ID-Armband«, sage ich heiser.
    »Ja, richtig.« Professor Melchior mustert mich nachdenklich. »Er stammt aus einer Freakfamilie, hatte aber einen Sonderstatus. Es hatte mit dem schlimmen Unfall zu tun, durch den er und seine Schwester die Eltern verloren hatten.«
    »Ja«, sage ich. »Wissen Sie mehr darüber?«
    »Nein, mein liebes Kind«, sagt er. Ich hätte mit dieser Anrede aus diesem Mund nicht mehr gerechnet. »Herr Okasaka war niemand, der einem seine persönlichen Verhältnisse unter die Nase rieb. Er war äußerst diskret und zurückhaltend, wenn auch fachlich brillant. Wäre er nicht eindeutig männlich und nachgewiesenermaßen von der Abstammung her ein Freak gewesen, hätte ich aufgrund seiner Geheimniskrämerei unterstellt, dass er Pheenblut hatte. Das war ein Spaß«, fügt er schnell hinzu, nachdem er meinen Gesichtsausdruck sieht. »Aber warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
    »Selbst?«, frage ich und lehne mich gegen die Wand. Auf einmal bin ich so erschöpft, dass ich am liebsten in das geblümte Schlafzimmer
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