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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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Soldaten und abgerichteten Hunden. Alle Pheen sollten dahin kommen. Aber die Pheen spürten die Gefahr und zogen sich in den Wald zurück. Nur eine einzige, sehr junge Phee wurde gefangen und ins Dementio gebracht. Sie war unerfahren und leichtsinnig und hatte vor nichts Angst. Und sie erwartete ein Kind. Vielleicht war es das, was die Phee so anfällig machte. Ein riesiges, großes, bewachtes Dementio für eine einzige, junge, schwangere Phee.
    Die Nachbarn erzählten damals, dass sie das Weinen und Schreien der Phee nächtelang hörten. Sie kratzte an den Wänden und trommelte gegen die Fenster, bis man sie fesselte und knebelte, damit sie endlich still war. Trotzdem gelang es ihr, auch mit Knebel im Mund so laut zu sein, dass es den Nachbarn durch Mark und Bein ging. Selbst wenn sie sich die Ohren zuhielten, hörten sie die anklagende Stimme der jungen Phee, die sie wütend verfluchte.
    Mein Kind wird euch zerstören, an seinen Flügeln werdet ihr es erkennen, hörten sie – es vibrierte nicht nur in ihren Ohren, sondern in ihrem ganzen Körper, ging ihnen unter die Haut, durch Mark und Bein.
    Für einen Augenblick vergesse ich, wo ich bin. Ich spüre nicht mehr die kalte Erde unter mir, ich richte mich auf und versuche zu erkennen, wer da gerade erzählt, aber er ist verborgen in dem dichten Ring aus aneinandergedrückten Rücken und Gliedmaßen. Das Feuer knistert und das Rudel hält die Luft an.
    Ich lege mir die Hand auf die Brust. Mein Herz schlägt so schnell, ich habe Angst, dass es mir gleich aus der Brust springt und davonhüpft.
    Früher weckte mich der Juckreiz auf meinen Schulterblättern. Jetzt wache ich auf, weil meine Füße frieren. Das unterscheidet mich von den anderen in unserem Rudel: Alle scheinen sich an die nächtliche Kälte längst gewöhnt zu haben. Sie tragen nicht mehr am Leib als ich, übergroße Jacken aus den Müllcontainern über zerschlissenen Pullovern, abgerissene Ärmel unbrauchbar gewordener Hemden um die Beine gewickelt. Die Haut ihrer Sohlen ist bereits braun und hart, während meine unter der Schmutzschicht noch rosa und leider immer noch sehr empfindlich ist. Als hätte ich gerade erst meine Lederschuhe ausgezogen, von denen ich früher mehrere identische Paare im Schrank stehen hatte, natürlich blank poliert.
    Nicht zufällig werden die Neulinge hier auch so genannt – Babyfüße. Ich bin ein Babyfuß, das heißt, ich bekomme als Letzte zu essen und kriege öfter als andere einen Ellbogen in die Magengrube, manchmal gönnerhaft, öfter rüpelhaft-gehässig. Sie erklären mir die Welt und ich höre zu. Ich brauche dieses Rudel, denn allein wäre ich längst verloren. Also nicke ich, stelle dumme Fragen, ziehe meine blau angelaufenen Zehen ein, kratze mit den schmutzigen, langen Nägeln an den Narben auf meinem Rücken herum.
    Wegen meiner Ticks gelte ich als durchgeknallt, aber das wundert hier niemanden. Aus der Normalität herauszufallen, verursacht einen mittleren Dachschaden; manchmal ist es auch genau umgekehrt, der Dachschaden führt den Absturz herbei. Mein Schweigen über meine Vorgeschichte, meine Weigerung, mein Gesicht zu waschen, meine Unbeholfenheit in praktischen Dingen – das ist, so komisch es auch klingt, in meiner Situation das Normalste der Welt. Der Schmutz in meinem Gesicht ist mein wichtigster Schutz: Niemand aus meinem früheren Leben würde mich jetzt wiedererkennen. Ich bin ein Babyfuß ohne Namen. Mir ist es recht, als Babyfuß angesprochen zu werden, denn mein richtiger Name würde mich umbringen.
    Es kommt selten vor, dass wir alle zusammen durch die Straßen ziehen. Immerhin sind wir, wenn das Rudel komplett ist, fast zwei Dutzend unterschiedlich gestörte, aber gleichermaßen zerlumpte Wesen. Weit würden wir zusammen nicht kommen. Mehr als drei Jugendliche, die gemeinsam unterwegs sind, gelten der Normalität als verdächtig, insbesondere dann, wenn es sich um Jugendliche mit fleckigen Gesichtern und vor Schmutz steifen Haaren in allen Regenbogenfarben handelt. Ich weiß nicht einmal genau, wer in unserem Rudel Mädchen und wer Junge ist. Ich verberge mein Gesicht, aber genauso wenig versuche ich, anderen in die Augen zu schauen und mir ihre Gesichtszüge zu merken.
    Was sich dagegen nicht vermeiden lässt, sind die Stimmen, die sich einbrennen. Heiser sind fast alle, vor Kälte und Spot, aber trotzdem kann ich das Krächzen der Krähe vom hysterischen Geschrei der Hyäne unterscheiden, den Husten des Kojoten vom Kläffen des Feneks. Mir
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