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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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der hilflose Babyfuß an seiner Seite in Wirklichkeit ist.
    Vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen, entdeckt zu werden. Immer wieder denke ich, dass ich mit meinem ungelenken, hilflosen Verhalten jedem sofort ins Auge springen muss. Ich weiß aber auch selber, dass hier ein Denkfehler ist. Verstörte Kinder und Jugendliche gehören neuerdings zum Stadtbild dazu wie die blau gestreiften Tulpen im Frühling in die Parks. Wohlstandskinder, die ihr Zuhause verloren haben, wundern niemanden mehr. Jeder einzelne dieser Teenager sieht aus, als wäre er gerade gegen eine Laterne gelaufen.
    Ich kann es selber kaum fassen, dass es inzwischen so viele sind. Meine ersten Tage im Rudel liegen zwar nur drei Monate zurück, aber ich habe das Gefühl, seitdem ist eine Ewigkeit vergangen. Ich kann selber nicht sagen, ob es an meiner anfangs getrübten Wahrnehmung liegt oder ob sich die Welt um mich herum wirklich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Anfangs fiel mir noch jedes einzelne Straßenkind auf, dem man die frühere Normalität noch ansah: ein Haarschnitt, der herauszuwachsen begann, Kleider, die sicher noch von zu Hause stammten und langsam die ersten Risse bekamen. Als es dann so viele wurden, hörte ich auf, ihnen hinterherzustarren und mich zu fragen, was sie von mir unterschied.
    Meistens macht das Rudel einen großen Bogen um diese Kids – weil sie als unzurechnungsfähig und als Klotz am Bein gelten. Keine Ahnung, warum sie für mich eine Ausnahme gemacht haben.
    Manchmal lese ich alte Zeitungen, in die wir uns in den Nächten wickeln, weil die wenigen Decken nicht reichen, schon gar nicht für Babyfüße wie mich. Bibbernd vor Kälte lese ich Artikel über schreckliche Dinge, die neuerdings in normalen Haushalten geschehen. Ich sauge alles gierig in mich hinein, weil es mir eine abartige Erleichterung verschafft zu erfahren, dass ich nicht die Einzige bin, deren Welt zerbrochen ist.
    Inzwischen habe ich das Gefühl, dass jedes dritte Wort in der Zeitung Phee lautet. Wenn Familien auseinandergehen, Vermögen dahinschmelzen, ehemals wohlerzogene Kinder durchdrehen, dann hat immer eine Phee ihre Finger im Spiel. Wenn die Aktienkurse abstürzen, Lebensmittel mit Krankheitserregern infiziert sind, selbst wenn ein arbeitsloser Ex-normaler Amok läuft: Es waren die Pheen.
    Wie würde Kojote reagieren, wenn ich ihm meine Familiengeschichte erzählen würde? Zumindest den kleinen Teil, den ich kenne?
    Kojote, meine Mutter ist eine Phee, formen meine Lippen, aber lautlos, und es ist nicht Kojotes Art, die Ohren zu spitzen, um das Gestammel eines dummen Babyfußes mitzukriegen. Ihr haltet mich für harmlos und hilflos. Wenn ihr wüsstet, wer ich wirklich bin, was würdet ihr dann mit mir tun?
    »Was murmelst du da?«
    »Nichts«, sage ich. »Lass uns um die Ecke gehen, dort ist noch eine Tür, die lässt sich nur von innen öffnen. An den Mülleimer davor kommen wir vielleicht leichter.«
    »Deine alte Schule?«, fragt er scharfsinnig.
    Wieder zucke ich zusammen, suche für den Bruchteil einer Sekunde seinen hellen Blick. »Und wennschon?«
    Seine Hand streckt sich erneut in meine Richtung, ich will mich wegdrehen, aber er fasst mir nur unters Kinn und kitzelt mich kurz mit seinem Zeigefinger, als wäre ich ein Welpe, den man gern tätschelt. »Das macht mir gar nichts, Babyfuß. Es braucht dir nicht peinlich zu sein.«
    Ich warte ab, bis seine Finger mich wieder loslassen, aber nun nimmt er mich an der Hand und zieht mich sanft mit.
    »Dann zeig mir die besten Stellen, so als Ehemalige.«
    Wir überqueren die Straße unter dem aufmerksamen Blick der Wachleute, nähern uns der Absperrung, laufen an dem hohen, mit Stacheldraht gesicherten Zaun entlang. Das ist nicht verboten, denke ich, wir sind weniger als drei, wir randalieren nicht, wir sind ganz friedlich. Wir können nicht verhaftet werden wie letzte Woche die fünf minderjährigen Freaks, die sich zu laut unterhalten hatten. Darüber hatte ich ebenfalls in der Zeitung gelesen. Doch die Gänsehaut auf meinem Rücken kommt nicht von der Kälte, sondern von meiner Panik.
    »Hast noch viele Freunde da?«, fragt Kojote, sein Tonfall ist distanziert und amüsiert zugleich. Seine Art, mich zu beobachten und zu kommentieren, verunsichert mich enorm. Ich verstehe nicht, warum er sich überhaupt mit mir abgibt, warum er nicht ausflippt vor Ungeduld über meine Langsamkeit, mich nicht verhöhnt und einfach stehen lässt, wie es jeder andere in dem Rudel sofort tun würde. Ich bin
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