Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
geschlechtslose Wesen, die sich allesamt zum Verwechseln ähnlich in ihrer Hilflosigkeit und ihrem Dauerfrieren sind.
    Darauf sagt keiner mehr etwas. Ich habe in der kurzen Zeit, die ich im Rudel bin, nicht herausfinden können, warum hier niemand dem Kojoten widerspricht. Es gibt Jungs, die deutlich größer und vermutlich auch älter sind – so genau kann man es nie sagen. Kojote ist eher schmächtig als kräftig. Seine Lumpen unterscheiden sich kein bisschen von denen der anderen. Seine Füße sind schwarz.
    Das Einzige, was an ihm auffällt, sind die hellsten Augen, die ich je gesehen habe. Ein Graublau fast an der Grenze zu Weiß. Wenn er seine Pupillen auf mich richtet, fühle ich mich wie aufgespießt. Wahrscheinlich geht es anderen auch so. Ich habe ihn selten die Stimme erheben hören. Meist spricht er leise und ist erstaunlich höflich.
    Vor vier Tagen habe ich erlebt, wie er zugeschlagen hat. Von der Vorgeschichte hatte ich nichts mitbekommen, wie immer in eigene Gedanken vertieft, und habe nur aus dem Augenwinkel gesehen, wie seine Faust plötzlich mitten in Hyänes Gesicht flog, wie Hyäne gleich darauf zurücktaumelte, einen blutigen Zahn ausspuckte und sich winselnd unter einen Haufen alter Zeitungen grub. Das kann ich nicht vergessen. Dass Kojote ausgerechnet ein Mädchen geschlagen hat, lässt mir die Perspektive, zum ersten Mal mit ihm allein unterwegs zu sein, nicht gerade rosig erscheinen.
    »Willst du mir was sagen, Babyfuß?« Die fast farblosen Augen mit je einem schwarzen Punkt in der Mitte, spitz wie Stecknadelköpfe, bohren sich in meinen Blick. Ich fühle mich bedrängt, spüre Panik aufsteigen. Aus beinahe selbstmörderischem Trotz schiebe ich den fettigen Haarvorhang vor meinen Augen beiseite und starre gegen jede Vorsicht zurück. Manchmal habe ich solche Momente, obwohl ich sonst sehr vorsichtig bin, denn ich weiß, dass ich überleben muss.
    Um uns herum wird es so still, wie es nur sein kann, wenn ein Dutzend verstopfte Nasen gleichzeitig die Luft anhalten. Ich höre deutlich, wie es in den chronisch verkühlten Atemwegen um mich herum rasselt. Sekunden dehnen sich endlos. Kojote wendet sich nicht ab und ich auch nicht. Ich lasse es jetzt drauf ankommen. Was habe ich schon zu verlieren?
    Und dann kapiere ich es plötzlich.
    Er weiß, wer ich bin.
    Wenn er mich einfach ins Gesicht geschlagen hätte, wäre ich jetzt weniger erschrocken. Ich reiße den Kopf nach unten, Haare fallen mir wieder in die Augen, Tränen quellen hervor, ich wische mit der Faust drüber.
    Kojote grinst. »Dann ist ja alles klar.« So eine raue Stimme, so ein sanfter Tonfall.

Lyzeum
    Wir laufen Seite an Seite durch das Stadtzentrum. Der Weg ist elend lang und es wird wieder Abend werden, bis wir zurück sind. Früher bin ich solche Strecken nie gelaufen. Ich schaue auf meine Füße und könnte heulen vor Mitgefühl, das ich für jede einzelne meiner Zehen empfinde. Ich versuche, nicht vor Selbstmitleid zu zerfließen.
    Meinen Blick halte ich aus mehreren Gründen gesenkt. So muss ich mich nicht damit beschäftigen, ob und wie Kojote mich anschaut und warum er es auf genau die Art und Weise tut, wie er es tut. Zweitens kann ich so am besten mein Gesicht verbergen. Das reduziert das Risiko, dass ich von jemandem erkannt werde.
    Drittens: Es ist die einzige Möglichkeit zu ertragen, durch die Straßen zu laufen, über die mich einmal der gut gefederte Schulbus geschaukelt hat. Genauso einer wie der, der gerade vorbeifährt. Ich halte die Augen gesenkt, kann aber das vertraute zischende Geräusch nicht ausblenden, mit dem die kindsgroßen Busreifen an einer Ampel abbremsen.
    Es hat nichts mehr mit mir zu tun, wiederhole ich mein neues Mantra, das mich jetzt am Leben halten muss. Das Mädchen, das mit diesem Bus gefahren ist, das bin nicht mehr ich. Das ist irgendwo in der Vergangenheit abgeblieben, ich habe sie verloren, nein, man hat sie mir weggenommen. Ich will sie nicht wiedersehen, ich habe nichts mehr mit ihr gemein.
    Ich lüge mich selbst an.
    Ich versuche, über etwas anderes nachzudenken. Zum Beispiel darüber, dass ich Glück habe: Es ist immerhin ein ungewöhnlich warmer Oktober. Ich mag es mir nicht ausmalen, wie es sich anfühlt, wenn es schneit und sich Eisspitzen in die nackten Sohlen bohren.
    Ich könnte Kojote fragen.
    »Was macht ihr eigentlich im Winter?«
    »Wir fliegen in den Süden.«
    Ich schaue zu ihm auf. »Im Ernst jetzt?«
    »Nein.«
    Ich senke den Blick wieder auf die Risse im Asphalt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher