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Eine verlaessliche Frau

Titel: Eine verlaessliche Frau
Autoren: Robert Goolrick
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1. KAPITEL
    â€¢ • •
    E s war bitter kalt und die Luft mit all dem aufgeladen, was noch geschehen sollte. Punkt vier Uhr nachmittags war die Welt vollkommen erstarrt. Nirgendwo bewegte sich etwas, nicht ein Körper, nicht ein Vogel. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte völlige Stille, völlige Regungslosigkeit. In einer gefrorenen Welt standen Gestalten wie gefroren da, Männer, Frauen und Kinder.
    Wenn Sie da gewesen wären, hätten Sie es gar nicht bemerkt. Sie hätten Ihre eigene Reglosigkeit in dieser dünnen Wabe der Zeit gar nicht bemerkt. Aber wenn Sie da gewesen wären und auf irgendeine unergründliche Weise die Reglosigkeit registriert hätten und ein Negativ davon hätten anfertigen können – so wie die Glasplatte das Licht absorbiert, damit man sie später entwickelt –, dann hätten Sie, als der Gedanke, die Erinnerung schließlich ins Entwicklerbad kamen, gewusst, dass dies der Augenblick war, in dem alles begann. Die Uhr tickte. Die Stunde schlug. Alles regte sich wieder. Der Zug hatte Verspätung.
    Noch schneite es nicht, aber bald würde es anfangen, und dem Geruch nach zu urteilen, kam sogar ein Schneesturm auf. Das Land war schon von niedergetrampeltem Schnee bedeckt. Die Landschaft entzog sich den Blicken, verschwand in einer schwarzen Horizontlinie, ohne dem Auge irgendeinen Anhaltspunkt zu bieten. Stoppeln im Schnee, rasiermesserscharf. Krähen, die nach nichts pickten. Schwarzer Fluss, frostiges Öl.
    Nirgends steht, dass die Hölle aus Feuer bestehen muss, dachte Ralph Truitt, der in seiner schlichten Kleidung auf dem eisigen Bahnsteig des winzigen Bahnhofs mitten im Nirgendwo stand. Die Hölle konnte auch wie dies hier sein. Es konnte mit jeder Minute dunkler werden. Es konnte so kalt werden, dass es einem die Haut von den Knochen sengte.
    Als er so mitten in der Menge stand, war seine Einsamkeit unermesslich. Er hatte das Gefühl, dass jeder in der gefrorenen Weite, in der er lebte – jede Hand war bedürftig, jedes Herz wollte etwas von ihm –, einen Grund hatte, auf der Welt zu sein, und einen Ort, wo er hingehörte. Jeder außer ihm. Für ihn gab es nichts. In der ganzen bitterkalten Welt gab es nicht einen einzigen Ort, an dem er sich niederlassen konnte.
    Ralph Truitt sah auf seine silberne Uhr. Ja, der Zug hatte Verspätung. Die Augen um ihn herum starrten ihn schweigend an. Sie wussten es. Er hatte darauf gezählt, dass der Zug an diesem Tag pünktlich sein würde. Auf die Minute, hatte er ihnen gesagt. Er hatte Pünktlichkeit auf die Art bestellt, wie ein anderer Mann vielleicht ein Steak in der von ihm bevorzugten Zubereitung bestellen mag. Nun stand er da wie ein Tölpel, und alle sahen zu. Und er war auch ein Tölpel. Er hatte sogar bei dieser kleinen Sache versagt. Es würde auch daraus nichts werden, aus diesem letzten kleinen Hoffnungsschimmer.
    Er war ein Mann, der es gewohnt war, zu bekommen, was er wollte. Seit seinen ersten erschütternden Verlusten vor zwanzig Jahren – dem Verlust seiner Frau, seiner Kinder, seiner tiefsten Hoffnungen und üppigsten Phantasien – hatte er sich angewöhnt, die Unerbittlichkeit seiner Ansprüche als einziges Bollwerk gegen den Schrecken zu betrachten, den er empfand. Die meiste Zeit funktionierte das ziemlich gut. Er war unerbittlich, und die Leute in der Stadt respektierten das, fürchteten es sogar. Und jetzt hatte der Zug Verspätung.
    Um ihn herum liefen die Leute aus seiner Stadt auf dem Bahnsteig umher, schauten sich um, warteten und versuchten, das Ganze beiläufig erscheinen zu lassen, als ob ihr Warten auch noch einen anderen Zweck hätte, als Ralph Truitt dabei zu beobachten, wie er auf einen Zug wartete, der Verspätung hatte. Sie machten kleine Scherze. Sie lachten. Sie sprachen leise, aus Respekt vor dem, was sie als Ralph Truitts Scheitern erkannten. Der Zug hatte Verspätung. Sie spürten, dass Schnee in der Luft lag. Sie wussten, dass der Schneesturm bald losbrechen würde. So wie es in jedem Frühling einen Tag gab, an dem die Frauen der Stadt wie auf ein geheimes Signal hin alle gleichzeitig in ihren Sommerkleidern erschienen, bevor man überhaupt die erste Wärme spüren konnte, so gab es auch einen Tag, an dem der Winter seine Krallen zeigte, bevor er das erste Mal richtig zuschlug. Und das war dieser Tag – der 17. Oktober 1907. Vier Uhr nachmittags und beinahe schon
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