Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine verlaessliche Frau

Titel: Eine verlaessliche Frau
Autoren: Robert Goolrick
Vom Netzwerk:
dunkel.
    Sie alle, jeder Einzelne, behielten mit dem einen Auge das Wetter und mit dem anderen Ralph im Blick. Wartend beobachteten sie den wartenden Ralph und tauschten jedes Mal Blicke, wenn er auf seine silberne Uhr schaute. Der Zug hatte Verspätung.
    Geschieht ihm recht, dachten manche, Männer zumeist. Manche, zumeist Frauen, hegten gütigere Gedanken. Vielleicht, dachten sie, nach all den Jahren.
    Ralph wusste, dass sie über ihn redeten, er wusste, dass ihre Gefühle für ihn, so kompliziert sie auch waren, ausgesprochen wurden, sobald er an ihnen vorbei war, wobei er mit jener Zivilisiertheit an seinen Hut tippte, die er der Welt Tag für Tag aufs Neue demonstrierte und für die er so hart gekämpft hatte. Er konnte es in ihren Augen sehen. Es begegnete ihm an jedem Tag seines Lebens. Das respektvolle Geschwätz, das unvermeidliche Gekicher über das, was sie alle über seine Vergangenheit wussten. Manchmal war es auch ein gütiges Flüstern, weil Ralph, auch jetzt noch, etwas an sich hatte, das ein mitfühlendes Herz anrühren konnte.
    Ralph wusste, der Trick bestand darin, nicht nachzugeben. In der Kälte nicht die Schultern einzuziehen oder mit den Füßen aufzustampfen oder den warmen Atem auf die kalten Handflächen zu hauchen. Der Trick war, sich gelassen der Kälte anheimzugeben, zu akzeptieren, dass sie gekommen war und lange Zeit anhalten würde. Sich ihr anheim zu geben, so wie man sich sonst vielleicht einer warmen Frühlingsbrise überließ. Der Trick war, ein Teil von ihr zu werden, so dass man so einen Tag in der Kälte, der einem durch Mark und Bein ging, nicht mit steifen, schmerzenden Schultern und roten Händen beendete.
    Manchen Dingen entkommt man, dachte er. Den meisten aber nicht, und ganz gewiss nicht der Kälte. Man entkommt den Dingen – meist schlechten – nicht, die einem einfach widerfahren. Dem Verlust der Liebe. Der Enttäuschung. Dem schrecklichen Peitschenhieb der Tragödie.
    Und so stand Ralph, mit vorgereckter Brust, unnachgiebig da und nahm die Kälte gar nicht wahr, überhörte den Klatsch und hielt den Blick auf die Gleise gerichtet, die sich in der Ferne verloren. Er war voller Hoffnung und gleichzeitig erstaunt darüber, dass er sich noch Hoffnungen machte, und hoffte, dass er passend aussah, nicht zu alt oder zu dümmlich oder gar zu gnadenlos. Hoffte, dass der Aufruhr in seiner Seele und seine hoffnungslose Einsamkeit unsichtbar blieben, jedenfalls in dieser Stunde, bevor der Schnee fiel und sie alle einschloss.
    Er hatte ein guter Mensch sein wollen, und er war kein schlechter Mensch. Er hatte, nachdem er etwas gewollt und es verloren hatte, sich selber beigebracht, nichts mehr zu wollen. Jetzt wollte er wieder etwas, und sein Verlangen erschreckte und erzürnte ihn.
    Als er sich zu Hause angekleidet hatte, bevor er zum Bahnhof gegangen war, hatte Ralph in einem der Spiegel kurz einen Blick auf sein Gesicht geworfen. Der Anblick hatte ihn schockiert. Es war schockierend zu sehen, was Kummer und Herablassung aus seinem Gesicht gemacht hatten. All diese Jahre des Hasses, der Wut und der Reue.
    Bevor er hierher gekommen war, hatte er zu Hause geschäftig seinen Kragen geknöpft und den Schlips geknotet. Diese Dinge tat er jeden Morgen, knöpfen und den Knoten richten, die strenge Sorgfalt eines anspruchsvollen Mannes. Aber bis er in den Spiegel geschaut und seine eigene ängstliche Hoffnung darin erblickt hatte, hatte er sich nicht vorstellen können – bei keinem einzigen Schritt dieser närrischen Unternehmung –, dass dieser Augenblick tatsächlich kommen würde und er dann nicht in der Lage wäre, ihn wenigstens zu ertragen. Aber das war es, was ihm in den Kopf gekommen war, als er sein eingefallenes Gesicht in dem feinen Spiegelglas erblickt hatte. Er konnte sie nicht ertragen, diese quälende Wiederbelebung. All die Jahre über hatte er den Tod, die grässliche Bloßstellung, ertragen. Er hatte durchgehalten, jeder Faser seines Herzens zum Trotz. Er war jeden Tag wieder aufgestanden und in die Stadt gefahren, hatte gegessen und die Firmen seines Vaters weitergeführt und, was unumgänglich war, die Last der Leben all dieser Menschen auf sich genommen, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, das zu vermeiden. Er hatte immer angenommen, dass sein Gesicht eine einzige Botschaft vermittelte: Es ist alles in Ordnung. Alles läuft gut. Es ist nichts
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher