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Eine verlaessliche Frau

Titel: Eine verlaessliche Frau
Autoren: Robert Goolrick
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zwischen Menschen geschehen können, die sich bei Tageslicht nur mit Abscheu mustern.
    In jedem Haus, dachte er fasziniert, herrscht ein anderes Leben. In jedem Bett gibt es Sex. Er ging jeden Tag durch die Straßen seiner Stadt, sah auf jedem Gesicht die simplen Freuden, die sie einander im Dunkeln gewährt hatten, und er redete sich ein, dass er sie als Einziger unter ihnen nicht brauchte, um weiterzumachen.
    Er ging zu ihren Hochzeiten und Beerdigungen. Er schlichtete ihre Streitigkeiten, ertrug ihre Tiraden. Er stellte sie ein und feuerte sie wieder, und er vergaß nie das Bild, wie sie sich durch die stumme Dunkelheit zueinander vortasteten, nach Trost suchten und Trost fanden, so dass sie, wenn die Sonne aufging, mit ihrem Leben wieder weitermachen konnten.
    An jenem Morgen hatte er sein Gesicht im Spiegel erblickt, und es war ein Gesicht, mit dem er nicht gesehen werden wollte. Sein Hunger, seine habgierige Einsamkeit – sie waren nicht tot. Und die Menschen um ihn herum waren nicht blind. Sie mussten all die Jahre schon so erschrocken gewesen sein wie er an diesem Morgen.
    Er trug den Brief in der Tasche, und in dem Brief befand sich das Photo einer schlichten Frau, die er nicht kannte und die er wie ein Paar Stiefel aus Chicago bestellt hatte, und in diesem Photo lag Ralphs ganze Zukunft, und nichts anderes hatte irgendeine Bedeutung mehr. Selbst seine Scham war, während er so in der gaffenden Menge stand und auf den überfälligen Zug wartete, im Vergleich dazu zweitrangig, weil er sich von ganzem Herzen für eine Sache entschieden hatte, bevor er überhaupt wissen konnte, was sie ihm wohl bringen würde. Und weil er unter ihren prüfenden Blicken seine Augen und seinen Sinn nicht mehr von etwas abwenden konnte, das er von ganzem Herzen beschlossen hatte, bevor er überhaupt gewusst hatte, was das für ihn eigentlich bedeutete.
    Irgendwann würde der Zug, verspätet oder nicht, ankommen, und dann würde alles, was vor seiner Ankunft geschehen war, eben davor sein, und alles, was danach kam, danach. Es war zu spät, das jetzt noch aufhalten zu wollen. Seine Vergangenheit wäre dann nur noch eine Folge von Ereignissen, die ihn zu dieser Verzweiflungstat geführt hatten.
    Er war ein vierundfünfzig Jahre alter Mann, dessen Gesicht ihn schockierte, doch in ein paar Augenblicken würden diese Züge gelöscht sein. Diese Hoffnung gestattete er sich.
    Wir wollen doch alle nur die einfachsten Dinge, dachte er. Trotz all der Dinge, die wir vielleicht besitzen mögen, oder der Kinder, die vielleicht sterben, wollen wir die Einfachheit der Liebe. Es war nicht zuviel, um das er bat, wenn er wie die anderen sein wollte, wenn er sich auch etwas für sich wünschte.
    Zwanzig Jahre lang hatte nicht ein einziger Mensch »gute Nacht« zu ihm gesagt, wenn er das Licht ausmachte und sich schlafen legte. Nicht ein einziger hatte »guten Morgen« gesagt, wenn er seine Augen öffnete. Zwanzig Jahre lang war er von niemandem mehr geküsst worden, dessen Namen er kannte, und doch erinnerte er sich, selbst jetzt, während der Schnee leicht zu fallen begann, daran, wie sich das anfühlte – die weiche Hingabe der Lippen, der süße Hunger darin.
    Die Leute aus der Stadt beobachteten ihn. Nicht, dass es ihm nun noch etwas ausmachte. Wir waren dabei, würden sie ihren Kindern und Nachbarn erzählen. Wir waren dabei. Wir haben gesehen, wie sie das erste Mal aus dem Zug stieg, und sie ist nur dreimal aus dem Zug gestiegen. Wir waren dabei. Wir haben ihn in dem Moment gesehen, als er sie in Augenschein nahm.
    Er hielt den Brief in seiner Hand. Er kannte ihn auswendig.
    Â»Ich bin eine einfache, ehrliche Frau. Ich habe auf den Reisen mit meinem Vater viel von der Welt gesehen. Durch meine Missionsarbeit habe ich die Welt kennen gelernt, wie sie ist, und ich mache mir keine Illusionen mehr. Ich habe die Armen gesehen, und ich habe die Reichen gesehen, und ich glaube nicht, dass zwischen sie auch nur ein Blatt passt, denn die Reichen sind genauso hungrig wie die Armen. Sie hungern nach Gott.
    Ich habe mehr tödliche Krankheiten gesehen, als man sich vorstellen kann. Ich habe gesehen, was die Welt der Welt antut, und ich kann es nicht länger ertragen, so in der Welt zu sein. Ich weiß, dass ich nichts dagegen tun kann, und Gott kann daran auch nichts ändern.
    Ich bin kein Schulmädchen. Ich habe mein Leben damit verbracht, Tochter zu sein, und
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