Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine verlaessliche Frau

Titel: Eine verlaessliche Frau
Autoren: Robert Goolrick
Vom Netzwerk:
passiert.
    Aber an diesem Morgen hatte er im Spiegel erkannt, dass dem nicht so war und dass er der Einzige war, der sich je davon hatte täuschen lassen. Und er sah, dass alles ihn mitnahm und ihm alles wichtig war.
    Diese Menschen, ihre Kinder, wurden krank. Diese Ehefrauen oder Ehemänner liebten sich nicht mehr oder taten es doch, während Ralph selbst vom Gedanken an den Liebesakt heimgesucht wurde, von ihrem sexuellen Dasein, das verborgen und uferlos unter ihrer Kleidung hauste. Von der Lust der anderen. Sie berührten sich alle. Ihre Kinder starben, manchmal alle auf einmal, ganze Familien, in einem einzigen Monat, an Diphterie, Typhus oder der Grippe. Ihre Männer oder ihre Frauen verloren in einer einzigen Nacht den Verstand, in der Kälte, und fackelten ohne erkennbaren Grund ihre Häuser ab oder erschossen ihre eigenen Verwandten, ihre eigenen Kinder. Sie rissen sich in der Öffentlichkeit die Kleider vom Leibe, urinierten auf die Straße und koteten in die Kirche, kämpften mit Schlangen. Sie töteten völlig gesunde Tiere, brannten ihre Scheunen nieder. Jede Woche stand so etwas in der Zeitung. Jeden Tag gab es eine neue Tragödie, irgendeine neue und unerklärliche Abweichung von der Normalität.
    Sie tränkten ihre Kleider mit Benzin und kamen aus Nachlässigkeit zu nahe ans Feuer und gingen in Flammen auf. Sie tranken Gift. Sie gaben sich gegenseitig Gift zu essen. Sie zeugten Töchter mit ihren eigenen Töchtern. Sie gingen gesund zu Bett und wachten umnachtet wieder auf. Rannten weg. Hängten sich auf. Solche Dinge geschahen.
    Und bei all dem hatte Ralph gedacht, dass sein Gesicht und sein Körper nichts verrieten, dass er den Menschen, ihren Kümmernissen und Sorgen ein gerechtes und gütiges Auge zugekehrt hatte. Er ging ins Bett und versuchte, nicht daran zu denken, aber an diesem Morgen war er aufgestanden und hatte es auf einmal erkannt: den Tribut, den das alles von ihm gefordert hatte.
    Seine Haut war aschfahl. Sein Haar hing kraftloser und dünner herab, als er gedacht hatte. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten, seine Blicke waren zu Boden gerichtet, und auf seinem Gesicht lag ein stetiger Ausdruck von Herablassung und Kummer. Von der Anstrengung, auf die Menschen zu achten, die ihm mit ihren Leibern zu nahe kamen und die zu laut redeten, hielt er ständig den Kopf in den Nacken gelegt. Diese Dinge, von der erschreckenden Windstille in seinem Herzen verursacht, waren gut sichtbar. Jeder sah das. Er hatte überhaupt nichts verbergen können. Was für ein Narr er doch gewesen war.
    Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich an jeder Straßenecke verliebt. Da war er schon etwas so Harmlosem wie einem hübschen Hutband gefolgt. Leichte Schritte, das Rascheln eines Rocksaums, eine behandschuhte Hand, die eine Fliege von einer sommersprossigen Nase scheuchte, waren schon genug gewesen, hatten schon ausgereicht, um heftiges Herzklopfen bei ihm auszulösen. Freudiges Herzklopfen. Herzklopfen voller brutaler Erwartung. Er hatte sich so ungestüm verliebt, dass sein ganzer Körper geschmerzt hatte. Aber diese verliebten Aufwallungen hatte er schon lange nicht mehr, und als er in den Spiegel blickte, hatte er mit einem neidvollen Stich an sein jüngeres, sinnlicheres Selbst gedacht.
    Er dachte an das erste Mal, als er die nackten Arme einer erwachsenen Frau gesehen hatte. Er erinnerte sich an das erste Mal, als eine Frau für ihn ihre Haare geöffnet hatte, an diesen fast erschreckend dichten Schwall, den Geruch nach Seife und Lavendel. Er erinnerte sich an jedes einzelne Möbelstück in dem Zimmer. Er dachte an seinen ersten Kuss. Er hatte das alles so sehr geliebt. Einst war das alles für ihn gewesen. Der Hunger seines Körpers war für ihn der gesamte Lebensinhalt gewesen.
    Man kann mit Hoffnungslosigkeit nur so lange leben, bis man tatsächlich hoffnungslos wird. Er war vierundfünfzig Jahre alt, und die Verzweiflung hatte sich Ralphs wie eine Entzündung bemächtigt, ohne dass er das überhaupt bemerkt hätte. Er konnte den exakten Augenblick nicht benennen, an dem die Hoffnung sein Herz verlassen hatte.
    Die Bewohner der Stadt nickten respektvoll, als sie an ihm vorbeieilten. »Abend, Mr. Truitt.« Und sie konnten es sich nicht verkneifen: »Der Zug ist ein bisschen verspätet, Mr. Truitt?« Er wollte sie schlagen, ihnen sagen, dass sie verschwinden, ihn allein lassen sollten. Weil sie es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher