Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
wsmt

wsmt

Titel: wsmt
Autoren: Unknown
Vom Netzwerk:
Ein Künstler tritt auf
     
    Der Mann, der an jenem frühen
Oktobernachmittag die Agentur Fiat Lux (Private Erkundigungen, Nachforschungen,
Beschattungen) betrat, ging nicht mehr auf die Sechzig zu. Er hatte sie bereits
erreicht, ja sogar überschritten. Mittelgroß. Abgetragener Trenchcoat, darunter
ein grauer Anzug, gutgeschnitten, aber derart mitgenommen, daß die Knie sich in
Sorgenfalten legten. Sein schlaffer Mund erinnerte an den einer Kröte.
Wahrscheinlich beherbergte er nicht mehr viele Zähne. Die Schäbigkeit seiner
schwarzen Schuhe, vorne spitz und an den Seiten rissig, wurde zum Teil durch
diese altmodischen Gamaschen verdeckt, die man noch manchmal hinter den Midinettes herlaufen sieht, hinter
diesen kleinen Näherinnen, eine weitere Gattung der Pariser Fauna, die immer
mehr von der Bildfläche verschwindet. Vor mir stand ein altes Männchen, trotz
allem peinlich sauber — Karikatur eines alten Beau — , glattrasiert, wie mit Rauhreif gepudert. Sah wohl
ständig glattrasiert aus, sah aus, als rasierte er sich mehrmals am Tag. Die
Haut seines hageren Durchschnittsgesichts war von einem Netz dünner, man hätte
meinen können künstlicher Runzeln zerfurcht. Durch das Puder schimmerte diese
eigentümliche Färbung hindurch, die der wiederholte Gebrauch von Make-up dem
Gesicht auf Dauer verleiht. Wie kaltes Kalbfleisch. Das Männchen war kein
Hausdiener, aber er hätte diese Rolle spielen können. Allerdings hätte er jede
Rolle spielen können, die nicht mehr Originalität verlangt als eine Gaslaterne
oder die Geräuschpalette einer Gemüsemühle. Nur als Transvestit eignete er sich
wohl kaum.
    „Guten Tag, Monsieur“, begrüßte
er mich emphatisch.
    Er nahm seinen Hut ab und
verbeugte sich förmlich. Einen Augenblick lang konnte ich die schönste Landepiste
für Fliegen bewundern, die ich jemals gesehen hatte. Dann richtete er sich
wieder auf, sah mich mit dem stechenden Blick seiner kleinen listigen Augen,
Ton in Ton mit Anzug und Hemd, an und fügte hinzu:
    „Mein Name ist Colin...“
    Er hielt einen Moment inne,
wohl damit ich mir diesen Namen tief in mein Gedächtnis einprägen konnte.
Colin? Von mir aus. Ich hatte nichts dagegen. Was es alles gibt auf dem
Standesamt! Er setzte seine Rede fort:
    „Auguste Colin, genannt
Nicolss. Mit zwei s, ohne Apostroph.“
    Seine feierliche, tiefklingende
Stimme wirkte so natürlich wie Schaumgummititten. Daß er kaum noch Zähne im
Mund hatte, irritierte ihn nicht im geringsten. Seine Artikulation war
affektiert, jede einzelne Silbe, ja sogar jeder Buchstabe zerfloß ihm auf der
Zunge. Der Satz, den er soeben von sich gegeben hatte, enthielt keinen
Apostroph, und ich fragte mich, wie er es anstellte, um dies gegebenenfalls zu
betonen; aber kein Zweifel: er hatte irgendeinen Trick.
    Ich lächelte:
    „Entschuldigen Sie, Monsieur
Colin, aber wir sind hier keine Theateragentur.“
    „Ah! Sie haben es bemerkt,
nicht wahr, Monsieur?“ sagte er, warf sich in die Brust und korrigierte den
Sitz seiner Fliege, wobei er sich nach einem Spiegel umsah. „Vielleicht bin ich
kein völlig Unbekannter für Sie... Nicolss! ... Sollten Sie mich vielleicht
zufällig in Le Courrier de Lyon oder Les Deux Orphelines gesehen haben? ... Ich habe auch gesungen. Repertoire von Bérard...“
    Er wartete meine Antwort nicht
ab. Mit einer müden Geste hob er die Schultern.
    „Natürlich nicht. Das ist alles
so lange her!“
    Er seufzte.
    „Ich gehe nur ins Kino“, sagte
ich.
    Verächtlich schob er die
Unterlippe vor. Ich schien in seiner Achtung zu sinken.
    „Das Kino, mit Verlaub, das ist
dummes Zeug. Eine blödsinnige Industrie, in der man für die wahren Talente
keine Verwendung hat. Eine Statistenrolle, das ist alles, wozu ich es da
gebracht habe. Ich! Nicolss!..“
    Aufgeblasen preßte er sich
seine weiße, gefleckte Hand gegen die Brust:
    „...Ich, der...“
    Wieder seufzte er, machte eine
wegwerfende Handbewegung über die Schulter und verbannte so Erinnerungen und
Klagen in die Requisitenkammer:
    „...Genug... Reden wir nicht
mehr davon Okay! Aber dran denken, das wollen wir trotzdem. Ich kenne diese
Sorte Mäuse. Immer auf der Jagd nach einem Rettungsring, den sie dann mit der
gebührenden Verachtung ergreifen; immer erinnern sie an ihr Malheur im Casino Pue-la-Vase-les-Flots, damals, in
der guten alten Zeit. Amüsant. Solange das Schauspiel nicht ewig dauert.
    „Reden wir nicht mehr davon“, wiederholte
der ausrangierte Komödiant. „Übrigens bin ich nicht hier,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher