Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
sich mit der Pheengefahr beschäftigen. Kein Beitrag, in dem ich nicht als Beispiel angeführt würde für das Risiko, eine Ehe mit der Phee einzugehen und mit ihr Nachwuchs zu bekommen.
    Ich falte das Blatt mit meinem Gesicht zusammen und beginne, es in Fetzen zu reißen. Jemand schubst mich mit dem Fuß an, ich sehe hoch. Kojote steht neben mir und hält mir ein gepelltes und angebissenes Ei hin.
    »Du musst was essen, Babyfuß. Du hättest nicht wegrennen brauchen. Ich bin nicht sauer, dass du mich vollgekotzt hast.«
    »Ich will das Ei nicht«, lüge ich. Dabei knurrt mein Magen lauter, als meine Zähne klappern. Die Leere in meinem Bauch saugt alle Gedanken in sich hinein. Ich habe das Gefühl, innen ganz hohl zu sein.
    Kojote beugt sich zu mir herunter, fasst mir mit der Hand ins Haar, zieht meinen Kopf zurück und stopft mir das Ei gewaltsam zwischen die Zähne. Ich schlage mit dem Fuß gegen seine Wade und spucke sofort wieder aus.
    »Was fällt dir ein!«
    Die Ei-Reste liegen zwischen meinen Knien auf dem Boden. Ich sehe den weißen und gelben Krümeln bedauernd hinterher. Hätte ich ein wenig länger nachgedacht, hätte ich das Ganze doch lieber runtergeschluckt.
    Kojote schüttelt den Kopf. »Du bist der verrückteste Babyfuß, den ich je gesehen habe.«
    Ich spüre, wie ein schiefes Grinsen ganz gegen meinen Willen mein Gesicht verzerrt.
    »Was hast du da?«, fragt er plötzlich.
    Ich reagiere zu langsam, denn schon reißt er mir die Fetzen des Faltblattes aus der Hand. Ich stopfe alles, was er nicht gekriegt hat, eilig in meinen Ärmel zurück. Er hat einige erwischt und dreht sie jetzt um. Auf dem einen Stück ist ein wenig von meiner Wange zu sehen, meine frühere Wange, wohlgemerkt, pausbäckig wie bei einem Kleinkind, sanft gerötet und mit einem niedlichen Grübchen gekrönt. Kein Vergleich zu meinem jetzigen hohlwangigen Gesicht. Auf dem anderen Papierfetzen ist ein Teil des Haaransatzes zu sehen, mit der Spange, die mit einem hellblauen Blümchen verziert ist.
    Während Kojote sie betrachtet, hole ich die übrig gebliebenen Papierreste wieder hervor und reiße sie in noch kleinere Stücke. Gut, dass er keinen Ausriss mit einem Auge erwischt hat, denke ich. An den Augen könnte er mich noch erkennen. Ich muss noch vorsichtiger sein, mein Kopfgeld ist einfach zu hoch. Im Rudel gibt es niemanden, der sich in den letzten Monaten satt gegessen hätte.
    »Wo hab ich das schon mal gesehen?«, überlegt Kojote laut und steckt zu meinem Entsetzen die beiden Papierstücke unter sein Hemd.
    Er geht zurück zum Feuer, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich sammele das zerkrümelte Eigelb vom Boden auf und stopfe es hastig in den Mund, bevor eine der fetten aggressiven Tauben, die den Vergiftungskommandos der Stadtverwaltung bis jetzt entkommen sind, mich mit ihrem krummen Schnabel und ihren Flügeln beiseitedrängt und alles aufpickt.
    In dieser Nacht erlaube ich mir das erste Mal seit längerer Zeit zu weinen. Das Rudel ist am Feuer enger zusammengerückt. Die Jungs und Mädchen, die Seite an Seite kauern, sich aufeinander abstützen, sehen mit ihren ineinander verkeilten Gliedmaßen und gerundeten Rücken wirklich wie Tiere aus. Die Haare stehen ab wie zerrupftes buntes Gefieder. Alle im Rudel haben Freakfrisuren. Der einzige Akt der Körperpflege, der hier nicht vernachlässigt wird, ist das regelmäßige Buntmachen der Haare mithilfe von Sprühfarben aus Metalldosen.
    In den ersten Tagen hatte ich mich noch gefragt, was mit ihren Eltern passiert ist. Dann schnappte ich Gespräche auf, die sich um versoffene Väter drehten und um Mütter, die den Überblick über die Namen und die Anzahl ihrer Kinder verloren haben. Es ist genau das albtraumhafte Bild der Freaks, das ich als Kind eingebläut bekommen hatte. So etwas passiert eben, wenn man nicht normal ist. Und genau das ist jetzt auch mir passiert.
    Da ich Berührungen nicht ertragen kann, bleibe ich abseits, bin niemals Teil der kuschelnden, im Einklang atmenden Meute. Ich wende mich vom Feuer ab, weil ich Sorge habe, dass ein Funke auf meine Gedanken überspringt und dann alles wieder losgeht. Ich habe schon genug kaputt gemacht, deswegen friere ich lieber, bis in den Schlaf und darüber hinaus.
    Die heisere Stimme des unsichtbaren Erzählers schwebt über dem atmenden Rudel, dem erlöschenden Feuer, er darf die Geschichte des Vorabends weitererzählen, die Geschichte, die mich in einen Zustand seltsamer Unruhe versetzt.
    »Das Kind der jungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher