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Hauchnah

Hauchnah

Titel: Hauchnah
Autoren: Virna Depaul
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1. KAPITEL
    P lainville war eine merkwürdig malerische Stadt; Nordkaliforniens Antwort auf das Mayberry in der Andy Griffith Show. Ländlich genug als Drehort für jeden beliebigen Low-Budget-Slasherfilm. Kontraste spielten in der Standfotografie eine genauso große Rolle wie im Film. Vielleicht hatte Natalie Jones aus diesem Grund Plainville zum Schauplatz ihres endgültigen Abstiegs in die Finsternis gewählt.
    Die Schlüsselszene einer Tragikomödie. Ein Darsteller. Ein Zuschauer.
    Und Vorhang.
    Im Moment allerdings erfreute sie sich eines letzten Aufschubs.
    Sie hätte so tun können, als wäre ihr das Wort „Netzhautdegeneration“ noch nie untergekommen. Als erwartete sie nicht die völlige Dunkelheit. Als wäre sie eine ganz normale Frau, die sich den Vormittag mit einem Bummel über den Bauernmarkt vertrieb, Bioobst und -gemüse prüfte und das Gemeinschaftsgefühl genoss.
    Beim Anblick eines der berittenen Polizisten, die hin und wieder den Marktplatz umrundeten, griff sie entschlossen nach ihrer Kamera, um ihn zu fotografieren. Dadurch jedoch wurde ihre Selbsttäuschung hinfällig.
    Sie war nicht normal, war es im Grunde nie gewesen.
    Sie konnte wohl die imposante Größe des Tieres, den Umriss und die Bewegungen wahrnehmen und erkennen, dass es ein typischer Fuchs war. Aber selbst mit einem Super-Vergrößerungsobjektiv sah sie nicht das Spiel der kraftvollen Muskeln unter der Haut, konnte den Ledersattel auf seinem Rücken nicht von der wahrscheinlich darunterliegenden Decke unterscheiden oder mit Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Reiter um einen Mann und nicht um eine kräftige Frau handelte.
    Natalie presste die Lippen zusammen, ließ die Kamera sinken und blinzelte gegen die drohenden Tränen an.
    Es ist schon richtig, dachte sie. Größer war nicht immer gleichbesser, nicht wenn sie bei einem Fünfhundert-Kilo-Pferd keine Einzelheiten erfassen konnte. Trotzdem, es war immer noch besser als gar nichts.
    Empört seufzend lief sie weiter, darauf bedacht, den Kopf hochzuhalten und langsam zu gehen. Doch auch nicht zu langsam.
    Riesige Mammutbäume säumten rechts von ihr den Weg. Natalie hielt wieder inne, da unverhofft Sonnenstrahlen durch die Zweige brachen und sie blendeten. Sarkastisch verzog sie den Mund, dann schloss sie die Augen, hob das Gesicht und genoss die kaum merkliche Wärme auf ihrer Haut. Diesen Moment wollte sie für dunklere Zeiten im Gedächtnis bewahren, zusammen mit Erinnerungen an andere Orte, die ihr Frieden vermittelt hatten.
    Die Seine in Frankreich.
    Die Serpentinenwege in den Schweizer Bergen.
    Die unbefestigten Straßen Malaysias, zu beiden Seiten umgeben vom üppigen Grün des tropischen Regenwaldes.
    Die Erinnerungen würden ihr helfen, ihren Kummer zu verbergen.
    Zu verbergen.
    Dieser Begriff war ihr inzwischen ziemlich vertraut. Eine Fähigkeit, die sie beinahe bis zur Perfektion vervollkommnet hatte.
    So viele Jahre hatte sie das Bevorstehende gefürchtet, dass ihr Auftreten nur noch selten widerspiegelte, wie viel Angst und Panik sie tief in sich empfand. Seit die Krankheit nicht mehr nur eine Wahrscheinlichkeit, sondern Wirklichkeit war, bedeutete die Fähigkeit, ihre Gefühle verbergen zu können, etwas sehr Wertvolles für sie. Beherrschung, ja, aber noch wichtiger war – Würde. Im Gegensatz zu ihrer Mutter würde sie ihr Schicksal mit Anstand annehmen und sich nicht von ihrer Situation unterkriegen oder zerstören lassen. Und es spielte auch keine Rolle, dass sie sich ihrer Zukunft allein stellen musste. Alleinsein war besser, auch wenn sie das eine Zeit lang nicht glauben wollte.
    Unvermittelt drifteten ihre Gedanken zu Duncan Oliver ab. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht schlang sie ihren Pullover fester um sich. Sie fröstelte.
    Warum musste sie zu allem Überfluss auch noch ständig so frieren?
    Nichts – kein Kaffee, kein warmes Kaminfeuer, nicht einmal eine Heizdecke – konnte die Kälte ganz vertreiben, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatte, nachdem Duncan vor zwei Wochen mit angespannter, doch entschlossener Miene zu ihr gekommen war und mit ihr hatte reden wollen.
    „Tut mir leid, Natalie. Ich liebe dich, aber … aber ich halte es nicht aus. Ich ertrage es nicht, mitanzusehen, was du durchmachst“, hatte er gesagt.
    Zu dem Zeitpunkt hatte Natalie nur mit Mühe ihre Tränen unterdrücken können. „Doch du kannst es ertragen, dass ich es allein durchstehen muss? Obwohl das hundertmal schlimmer ist?“ Ach was, hundert.
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