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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Siri Hustvedt
     
    Sommer ohne
Männer
     
    Roman
     
    Aus dem Englischen
von Uli Aumüller
     
    Die Originalausgabe
erschien 2011 unter dem Titel «The Summer Without Men» bei Picador, New York.
     
    Für Frances
Cohen
     
    Lucy (Irene
Dünne): Du bist ganz verwirrt, oder?
    Jerry (Cary
Grant): Hm. Du nicht?
    Lucy: Nein.
    Jerry: Aber
das solltest du, weil du dich nämlich täuschst, wenn du glaubst, dass alles anders
ist, weil es nicht mehr so wie früher ist. Es ist schon anders, aber eben anders,
als du denkst. Du bist noch dieselbe. Bloß ich war ein Dummkopf. Aber jetzt nicht
mehr. Jetzt, wo ich mich geändert habe, glaubst du nicht, dass alles so sein könnte
wie früher? Nur ein ganz klein wenig anders?
     
    Die schreckliche
Wahrheit Regie: Leo McCarey Drehbuch: Via Delmar
     
     
    Eine Weile
nachdem er das Wort Pause ausgesprochen
hatte, drehte ich durch und landete im Krankenhaus. Er sagte nicht: Ich will dich nie wiedersehen, oder: Es ist aus, doch nach dreißig Jahren Ehe reichte Pause, um aus mir eine Geisteskranke zu machen, in deren Hirn die
Gedanken platzten, wild herumfuhrwerkten und voneinander abprallten wie Popcorn
in einer Mikrowellentüte. Diese traurige Feststellung machte ich in meinem Bett
in der Psychiatrie, so mit Haldol zugedröhnt, dass ich mich kaum bewegen wollte.
Die garstigen rhythmischen Stimmen waren leiser geworden, aber nicht verschwunden,
und wenn ich die Augen schloss, sah ich Comicfiguren über rosa Hügel sausen und
in blaue Wälder verschwinden. Dr. P. diagnostizierte dann eine akute vorübergehende
psychotische Störung, auch bekannt als Durchgangssyndrom, was bedeutet, dass man
wirklich verrückt ist, aber nicht lange. Wenn es länger als einen Monat anhält,
braucht man ein anderes Etikett. Offenbar gibt es für diese spezielle Form von Störung
häufig einen Auslöser oder «Stressor», wie es im psychiatrischen Jargon heißt. In
meinem Fall war das Boris, oder vielmehr die Tatsache, dass eben kein Boris da war,
dass Boris seine Pause machte. Sie behielten mich anderthalb Wochen da, dann ließen
sie mich gehen. Eine Zeitlang wurde ich ambulant behandelt, bis ich Frau Dr. S.
mit ihrer tiefen musikalischen Stimme, ihrem verhaltenen Lächeln und ihrem guten
Ohr für Lyrik fand. Sie stützte mich, stützt mich eigentlich immer noch.
    Ich erinnere
mich ungern an die Verrückte. Ich schäme mich für sie. Lange scheute ich mich, mir
anzusehen, was sie während ihres Aufenthalts auf der Station in ein schwarz-weißes
Notizbuch geschrieben hatte. Ich wusste, was in einer Handschrift, die meiner überhaupt
nicht ähnlich sah, auf den Einband gekritzelt war: hirnscherben , aber ich
schlug es nie auf. Ich hatte Angst vor ihr, wissen Sie. Als meine Tochter Daisy
mich besuchen kam, ließ sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Ich weiß nicht genau,
was sie sah, aber ich kann es mir vorstellen, eine immer noch verwirrte Frau, mit
einem durch die Nahrungsverweigerung abgemagerten und die Medikamente erstarrten
Körper, ein Mensch, der nicht angemessen auf die Worte seiner Tochter reagieren,
sein eigenes Kind nicht in den Arm nehmen konnte. Und dann, als sie ging, hörte
ich, wie sie sich mit einem unterdrückten Schluchzer bei der Krankenschwester beklagte:
«Es ist, als wäre sie nicht meine Mom.» Damals war ich nicht bei mir, aber mich
jetzt an diesen Satz zu erinnern ist eine Qual. Ich verzeihe mir das nicht.
     
    Die Pause war
eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten
Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten
Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute,
dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre
signifikanten Bereiche stürzte. Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt. Boris,
dem die schneeweißen Locken in die Stirn fallen, während er neben den Käfigen mit
den genmanipulierten Ratten nach der besagten Pause grapscht. Ich sehe die Szene
immer im Labor vor mir, obwohl das wahrscheinlich falsch ist. Dort waren die beiden
selten allein, und das «Team» hätte lautstarkes Gefummel in der Nähe sicher bemerkt.
Vielleicht suchten sie in einer Toilettenkabine Zuflucht, wo mein Boris seine Forscherkollegin
bearbeitete, bis ihm die Augen in ihren Höhlen nach oben rollten, als er sich der
Entladung näherte. Das kannte ich alles. Ich hatte seine Augen tausendmal nach oben
rollen sehen. Die Banalität der
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