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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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bedeutet hatte. Allerdings wusste ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, dass überall in der Stadt Plakate mit meinem Gesicht hängen und dass mein Name Synonym für schlimmste Gefahr geworden ist. Zum Glück hatte niemand im Rudel in dem Nervenbündel im gestreiften Schlafanzug, mit abstehenden blauen Haaren, noch blaueren Lippen und dem irren Blick die angebliche Mörderin erkannt, auf die ein hohes Kopfgeld ausgesetzt worden war.
    Sie hatten mich in ihre Mitte genommen und zu ihrem Schlafplatz geführt, an dem sie nachts Feuer machen – was streng verboten ist – und abends nach einem strikten System das knappe Essen aufteilen. Ich bekam einige abgelegte Kleiderreste, die nach Rauch und Spot stanken. Meinen Schlafanzug trage ich immer noch darunter und ich denke, dass mich einige darum beneiden. Ich war noch nie in dem Viertel gewesen, in das sich das Rudel gleich in der ersten Nacht zurückzog. Es besteht aus schnurgeraden Straßen, die enger wirken, als sie in Wirklichkeit sind, weil sie von Hochhäusern gesäumt werden und daher im ewigen Schatten liegen.
    Im Sommer wäre es hier wahrscheinlich angenehm kühl gewesen, jetzt ist man immerhin, wenn man die richtige Ecke findet, vor Wind geschützt. Mir war von Anfang an unwohl zwischen den grauen Türmen, deren obere Enden sich in den tief hängenden Wolken verlieren, die die gleiche Farbe haben. Erstens fühlte ich mich sehr klein, zweitens hatte ich Angst, dass die Hochhäuser umstürzen und mich unter den Trümmern begraben würden. Manchmal legte ich den Kopf zurück, um die oberen Stockwerke zu sehen, und blieb so, bis mich die Nackenschmerzen wieder in eine andere Haltung zwangen.
    Ich weiß nicht, wann ich genau bemerkte, dass es in dieser unwirtlichen Umgebung ziemlich viel Grün gab. Ranken mit dicken, glänzenden und gezackten Blättern, die mich entfernt an Efeu erinnerten, der in meiner Kindheit so verpönt war, drängten sich durch die Risse im Asphalt und wucherten vor den Hauseingängen. Später entdeckte ich ganze Fassaden, deren Grau unter dem Grün nicht mehr richtig zu erkennen war. Ich fragte mich, ob es wirklich von Tag zu Tag mehr wurden oder ob meine Augen mich täuschten. Vielleicht führte mich auch der erste Herbst meines Lebens, den ich ohne Dach überm Kopf erlebte, in die Irre: die Unruhe des Septembers, die immer kürzer und düster werdenden Oktobertage, die drohenden endlosen Novembernächte.
    Der Schlafplatz befand sich auf einem früheren Parkplatz zwischen zwei Hochhäusern, ich erkannte es an den verblichenen Markierungen auf dem rissigen Asphalt. Ich beobachtete die Häuser im Liegen, manche Fenster waren eingeschlagen, fast alle blieben auch in der Nacht dunkel, einige wenige leuchteten auf. Ich fragte mich, wer dadrin wohnte. Irgendwann fiel mir auf, dass ich nie jemanden die Häuser betreten oder verlassen gesehen hatte. Einmal erkundigte ich mich bei Krähe, warum es hier so menschenleer war.
    »Wie soll man dadrin leben?«, fragte Krähe. »Siehst du nicht, dass sich hier der Wald breitmacht?«
    Ich wusste nicht, was sie damit meinte – etwa die paar Pflanzen? Ich fragte sie. Sie nannte mich bescheuert.
    »Wenn keiner drin wohnt, warum schlafen wir hier draußen?«, fragte ich. »Warum gehen wir nicht in diese verlassenen Wohnungen?«
    »Wenn du nicht sofort deine Klappe hältst, schmeißen wir dich da rein«, sagte Krähe.
    So gingen unsere Wortwechsel meistens aus. Niemand aus dem Rudel redete ernsthaft mit mir. Länger am Stück hörte ich ihre Stimmen nur, wenn sie sich untereinander balgten oder abends am Feuer ihre Geschichten erzählten.
    Ich war dem Rudel fremd geblieben, sie hatten mich nicht gemocht, aber immerhin geduldet. Trotz alldem war es in den letzten Monaten mein Zuhause gewesen. Ein anderes hatte ich nicht mehr.

Das Armband
    Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich nur eine einzige Sorge hatte: Welche Hausaufgaben ich zuerst erledigen und welche Bluse ich mir für morgen rauslegen sollte. Ich hatte in einem schönen dreistöckigen Haus gelebt, mit Garage und einem bepflanzten Vorgarten. Ich hatte mir heimlich einen kleinen Mops gewünscht, stöhnte jeden Morgen, wenn der Wecker klingelte, trug eine gebügelte Lyzeumsuniform und fuhr täglich mit dem Schulbus ins Zentrum und zurück. Meine Welt war auf unser Viertel und das Lyzeum begrenzt. Jetzt kommt mir diese Zeit unendlich weit weg und paradiesisch glücklich vor – die Zeit, in der ich noch nicht wusste, dass auch meine Mutter eine Phee ist. Und
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