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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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die Falle locken und dann der Polizei ausliefern und das Kopfgeld kassieren. Und er hat extra die Razzia abgewartet, um nicht mit dem Rudel teilen zu müssen.
    Wir laufen die leeren Straßen entlang. Kojotes Hand liegt auf der Stelle, wo mein Hals aufhört und meine linke Schulter beginnt. Es ist tiefste Nacht, die Zeit, in der es nicht nur am kältesten ist, sondern auch in jedem Gebüsch, wie es mir scheint, etwas besonders Fieses lauert. Mir kommt es vor, als würden die Blätter flüstern. Nur deswegen erdulde ich Kojotes Hand auf meiner Haut.
    Wir unterhalten uns leise über das Rudel. Kojote sagt, er habe keine Ahnung, wohin die anderen gelaufen sind. Nicht umschauen, einfach losrennen ist die Devise. Kopflos, genau wie ich es gemacht habe. Bloß dass die anderen irgendwann anhalten und wissen, wo sie sind, weil sie im Gegensatz zu mir die Viertel und die Zonen kennen. Sie warten ein paar Tage ab und gehen dann zum vorher vereinbarten Treffpunkt. Den hat mir niemand verraten. Manchmal ist das Rudel innerhalb kürzester Zeit wieder vollzählig, erklärt mir Kojote leise. Aber diesmal ist es nicht sehr wahrscheinlich. Ist der Schlafplatz einmal entdeckt worden, gilt das Rudel als infiziert. Irgendwas ist faul, irgendjemand hat etwas verraten, man fühlt sich beobachtet und traut erst einmal keinem alten Gefährten.
    »Und warum bist du hier?«, frage ich.
    Kojote schaut mich von der Seite an. »Weil du der bescheuertste Babyfuß bist, dem ich jemals begegnet bin.«
    »Vorher hast du gesagt, der wahnsinnigste«, sage ich und spüre irritiert, wie meine Lippen sich in einem Lächeln verziehen.
    Er geht nicht darauf ein. »Ich glaube, es war das Feuer«, sagt er kühl und schaut in den Himmel, der tiefer gelegt scheint, bewölkt, kein einziger Stern ist zu sehen. »Die Razzien kommen wegen des Feuers. Man hört neuerdings, jede Feuerstelle wird mit Helikoptern aufgespürt. Wir hätten eben kein Feuer machen dürfen. Offenbar brennt es häufig in der Stadt und sie haben Angst, dass ihnen alles unter den Füßen weggekokelt wird.«
    Vier Mal hat er das Wort Feuer erwähnt, denke ich, während mein Herz schneller klopft. War das Absicht?
    »Die Normalen drehen durch«, sagt er und seine Hand auf meiner Schulter wird schwerer. »Das wird immer schlimmer. Sie haben jetzt vor allem Angst. Feuer, Wasser, Frost, Hitze, Schmutz, Krankheiten. Jedes Wesen auf zwei Beinen ist eine potenzielle Gefahr.«
    »Jedes Wesen ohne ID-Armband, meinst du.«
    »Nein, das ist ja das Lustige«, sagt er. »Jedes Wesen überhaupt.«
    »Das sagst du nur, weil du selber ein Freak ohne Armband bist«, sage ich. »Wenn du eins hättest, wärest du jetzt nicht hier, barfuß und ausgehungert auf der Straße und auf der Flucht. Du würdest im warmen Wohnzimmer vor einem Elektrokamin sitzen zwischen staatlich zertifizierten Kunstwerken, du würdest dir Sorgen machen, ob die Farbe deiner Socken zum Reißverschluss deines Cordsakkos passt, und du hättest Feuchttücher von HYDRAGON in der Hosentasche, Duftrichtung Schießpulver.«
    Er wirft den Kopf zurück und lacht. Dann streckt er den anderen Arm aus und schüttelt ihn, bis seine mehrschichtigen Ärmel den Unterarm freigeben. Ich reiße ungläubig die Augen auf. Wir bleiben unter der Laterne stehen und er hält mir sein ID-Armband unter die Nase.
    Ich starre es lange und ungläubig an, als hätte ich so etwas noch nie in meinem Leben gesehen, als hätte es nie die Zeit gegeben, in der ich selber ein solches Armband getragen habe; erst selbstverständlich und gleichgültig, weil ich damals noch nicht gewusst hatte, dass nicht jedermann ein Armband besitzt; später, als sogar zu mir durchgedrungen war, dass nur das Armband einen Normalen als solchen ausweist, durchaus auch mit Stolz, der mir heute peinlich ist. Ich hatte mein Armband im Waldhaus meiner Mutter abgenommen und unters Kissen gelegt und nicht mehr daran gedacht, bis ich plötzlich aus dem Wald zurück in meine frühere Welt katapultiert wurde und feststellte, dass das Handgelenk nackt ist. Wahrscheinlich ist das sogar besser so. Sonst könnte mich jeder Polizist einscannen und jener Juli zuordnen, die erschrocken von den Plakaten in der Stadt schaut.
    Ohne Armband ist es aber auch nicht einfach, denn die Verbote haben sich verschärft: Man kann ohne ID keinen Einkaufsladen betreten, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, die von der Normalität betrieben werden, und kommt an keiner Kontrolle vorbei, die inzwischen die Übergänge
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