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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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PROLOG
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    Es ist das Columbus-Day-Wochenende, und sie haben Glück mit dem herrlichen Wetter, einem Spätsommertag im Oktober. Sie sitzt auf ihrem Strandliegestuhl, die Lehne senkrecht gestellt, und gräbt die Fersen in den heißen Sand. Das Meer vor ihr glitzert weiß und silbrig im Sonnenschein. Es gibt keine Fischerboote oder Jachten in der Ferne, keine Kitesurfer oder Schwimmer nahe der Küste, nichts als einen puren Meerblick heute. Sie atmet ein und aus.
    Nimm es in dich auf.
    Ihre drei Töchter sind eifrig dabei, eine Sandburg zu bauen. Sie sind zu nah am Wasser. Binnen einer Stunde wird die Burg überflutet und zerstört werden, aber sie hören ja nicht auf die Warnungen ihrer Mutter.
    Ihre älteste Tochter, fast acht, ist die Architektin und Vorarbeiterin. Mehr Sand hier. Eine Feder dort. Holt ein paar Muscheln für die Fenster. Grabt dieses Loch tiefer . Die beiden jüngeren sind ihre treuen Bauarbeiter.
    »Mehr Wasser!«
    Die jüngste, knapp vier, liebt diesen Job. Sie läuft mit ihrem Eimer los, bis sie knietief im Meer steht, füllt den Eimer und kommt zurück, kämpft mit seinem Gewicht, verschüttet mindestens die Hälfte des Wassers, während sie zu ihren Schwestern zurücktorkelt, lächelnd, voller Freude über ihren Beitrag zu dem Projekt.
    Sie liebt es, ihren Töchtern so zuzusehen, in ihr Spiel vertieft, ohne auf ihre Mutter zu achten. Sie bewundert ihre jungen Körper, alle in Kleinmädchen-Bikinis, die Haut noch immer tief gebräunt von einem Sommer im Freien, während sie hüpfen, in die Hocke gehen, sich bücken, sich setzen, völlig unbefangen.
    Das Wetter und der Feiertag haben viele Touristen auf die Insel gelockt. Verglichen mit den letzten Wochen seit dem Labor Day scheint der Strand heute überfüllt von Spaziergängern und ein paar Sonnenanbetern. Erst gestern ist sie eine Stunde an genau diesem Strandabschnitt entlanggegangen und hat nur eine einzige andere Person gesehen. Aber das war ein Freitagmorgen, und es war neblig und kalt.
    Ihre Aufmerksamkeit fällt auf eine Frau, die auf einem ähnlichen Strandstuhl am Rand des Wassers sitzt, und ihren Jungen, der neben ihr für sich allein spielt. Der Junge ist ein mageres kleines Ding, ohne Hemd, in einer blauen Badehose, vermutlich ein Jahr jünger als ihre jüngste Tochter. Er baut eine Reihe aus weißen Steinen im Sand.
    Jedes Mal, wenn das Wasser hereinflutet und seine Steinreihe für einen Moment in weißem Schaum ertränkt, springt er auf und ab und kreischt. Dann läuft er ins Wasser, als würde er ihm nachjagen, und wieder zurück, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
    Sie beobachtet ihn weiter, aus irgendeinem Grund gebannt von ihm, während er methodisch immer mehr Steine an seine Reihe anlegt.
    »Gracie, frag diesen kleinen Jungen doch einmal, ob er euch helfen will, die Sandburg zu bauen.«
    Aufgeschlossen und gewohnt, Anweisungen zu befolgen, springt Gracie hinüber zu dem kleinen Jungen. Sie sieht zu, wie ihre Tochter mit ihm redet, die Hände in die Hüften gestemmt, aber die beiden sind zu weit entfernt, als dass sie hören könnte, was ihre Tochter sagt. Der Junge scheint sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Mutter sieht für einen Moment über ihre Schulter.
    Gracie läuft allein zurück zu ihrer Stranddecke.
    »Er will nicht.«
    »Okay.«
    Bald beginnt das Meer mit seinem Angriff auf die Burg, den Mädchen wird es langweilig, weiter an ihr zu bauen, und sie fangen an zu murren, dass sie Hunger haben. Es ist Mittag, und sie hat kein Essen mitgebracht. Zeit zu gehen.
    Sie schließt die Augen und nimmt einen letzten warmen, frischen, salzigen Atemzug, dann atmet sie aus und steht auf. Sie sammelt eine Handvoll im Sand verstreute Schaufeln und Burgförmchen ein und trägt sie zum Meer, um sie auszuspülen. Sie lässt das Wasser über ihre Füße schwappen. Es ist betäubend kalt. Während sie die Strandspielsachen ihrer Töchter ausspült, sucht sie den Sand nach Muscheln oder Meerglas ab, irgendetwas Schönem, um es mit nach Hause zu nehmen.
    Sie sieht nichts Lohnenswertes, aber sie entdeckt einen einzelnen, strahlend weißen Stein, der aus dem Sand hervorragt. Sie hebt ihn auf. Er ist oval, vollkommen glatt gewaschen. Sie geht hinüber zu dem kleinen Jungen, bückt sich und legt ihren Stein behutsam an ein Ende seiner Reihe an.
    Er sieht sie so kurz an, dass sie sie fast gar nicht bemerkt hätte – entzückende braune Augen, die sie in der Sonne anblinzeln, voller Freude über ihren Beitrag zu seinem Projekt.
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