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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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    A n einem kalten Apriltag des Jahres 1961 hielt ein Schienenbus der«Kreuzthaler Kreisbahn AG»auf dem Bahnhof Kreuzthal. Der Wind pfiff über den Bahnsteig, auf dem zwischen zwei Reihen schiefgewachsener Rotdorne in Augenhöhe ein schwarz umrandetes Schild angebracht war:«Kreuzthal». Unter diesem Schild, mit Bindfaden festgebunden, hing ein Stück Pappe:«Achtung! Frisch gestrichen!»
    Ein junger Mann stieg aus dem Schienenbus – linke Hand am linken Griff -, er faßte den sich aufblähenden Staubmantel mit der rechten und guckte sich um,«leicht amüsiert»: was das für ein Nest ist, in dem er hier gelandet ist…
    «Beim Deibel auf der Rinn bin ich», dachte er und zog seinen Koffer aus dem Bus. Aber das war es ja, was er gewollt hatte: alles hinter sich lassen und ganz neu anfangen. Es mit Kindern zu tun kriegen, auf einem Dorf, das würde ihm guttun nach den Enttäuschungen seines Lebens. Je verrotteter die Schule sein würde, an die man ihn versetzte, um so besser würden sich seine kleinen Talente entfalten können.

    Matthias Jänicke hieß er, und der Name hatte ihm schon viel Verdruß bereitet.«Jänicke?»fragten die Leute.
    «Ohne h, aber mit ck.»
    «Ja, aber wie denn nu?»wurde dann gesagt.
    Es war auch schon geschehen, daß man ihn«Jähnisch»genannt hatte. Die Abkunft des Namens von«Jahn»riß vieles wieder heraus.

    Das kleine freundliche Bahnhofsgebäude mit Rotdornallee hatte ein Bremer Architekt entwerfen und bauen dürfen, ein Vertreter des Jugendstils, obwohl der ortsansässige Maurermeister das genauso gut hingekriegt hätte, wie immer wieder gesagt wurde. Der Schankraum des Bahnhofs war die Oase von Landarbeitern, die sich in den Kreuzthaler Gasthöfen nicht so gern vollaufen ließen. Hier draußen waren sie weit vom Schuß. Er war mit Stirb-und-werde-Möbeln ausgestattet worden und mit einem von Hand gemalten Heidebild an der Wand.

    Der Lagerschuppen des Bahnhofsgebäudes war mit grünen Schiebetüren versehen. Hier hatte schon mal ein Sarg gestanden, die Leute erinnerten sich noch daran. Und hier war 1944 ein unrasierter Mann aufbewahrt worden, der in das Moorlager Emsthal überstellt werden sollte. Auch das wußten die Leute noch. Das war damals nicht recht gewesen, das hätte nicht sein dürfen, aber man hatte es nicht verhindern können.
    Unter dem stuckverzierten Giebel des kleinen Bahnhofs war ein Spruch angebracht, von gleicher Hand entworfen wie das M und F der Klos:
    Wie de Tied, so ändern sick de Lüd!
    Vor dem kleinen Bahnhof stand ein Dieselölfaß, mit Schlauch und Plastiktrichter. Aus diesem Faß wurde, wenn nötig, der Schienenbus betankt, mit Handpumpe, zick-zack. Ein schwarzglänzender Ölschatten hatte sich auf dem Schotter rundherum gebildet: für Archäologen in fernen Zeiten ein sicheres Indiz dafür, daß hier einmal Menschen gewohnt hatten.

    Neben der Schlachtviehrampe war ein Lkw-Anhänger abgestellt, beladen mit ineinandergeschobenen grünen Heuwendern, nagelneu, für den örtlichen Landhandel bestimmt, ein Rätsel, wieso sie nicht längst abgeholt worden waren und verkauft. Einmal in Gebrauch genommen, würden sie schnell ihr festliches Aussehen verlieren. Ein einziges Mal den Acker hoch und runter – aus ist es mit der Herrlichkeit.

    Matthias ging nach vorn zum Schaffner. Der schnallte ihm das Fahrrad ab, das draußen am«Molly»hing, und dann notierte er es auf einem Schreibbrett, daß er das getan hat, das Rad abschnallen und dem Einlieferer aushändigen. Ein neues Rad war das, Marke Herkules, mit Packtaschen am Gepäckträger, die Lederschnallen noch steif. Viergangschaltung und ein Kilometerzähler, den man mit der Hand auf Null drehen konnte.

    Es war auch eine junge Frau ausgestiegen, in hellem Tuchmantel, das Kleid darunter schwarz. Sie wirkte hier fremd, aber sie kannte sich aus, denn sie ging geradewegs auf ein kleines Auto zu, das neben der Viehrampe abgestellt war, einen FIAT 500, mit Püppchen am Rückspiegel. – Eine randlose Brille trug sie, und sie wirkte etwas unbeholfen wegen dieser Brille, aber doch auch lustig. Das kam wohl von ihrem kurz gekräuselten Haar. Durch den Rückspiegel betrachtete sie den jungen Mann, der zu ihr herüberguckte. Dann bleckte sie die Zähne in den Spiegel hinein, ob die noch einigermaßen in Ordnung sind, und fuhr davon.

    Nun kam der Stationsvorsteher geschritten, der hatte einen schönen Schnurrbart. Er grüßte den Zugschaffner, den er jeden Tag viermal zu sehen kriegte, zweimal auf der Hintour und
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