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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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Phee wurde im Dementio geboren. Es ist ein Kind, das als der größte Störfall in den Zeiten der Normalität in die geheimen Geschichtsbücher einging. Es war schrecklich verunstaltet und alle, die es sahen, bekamen furchtbare Angst und hatten nächtelang Albträume. Insbesondere dann, wenn sie die Flüche der Phee noch in den Ohren hatten. Mit diesem Kind musste etwas passieren, wenn die Normalität eine Chance haben sollte.
    Experten hatten versucht, die schlimmsten Verunstaltungen zu operieren, um dem Kind wenigstens einen Hauch normales Leben zu ermöglichen. Sie nahmen es der Phee weg und ihre Schreie flogen über der Stadt, sodass nicht nur die Nachbarschaft des Dementio, sondern auch die zentralen Viertel keinen Schlaf mehr fanden.
    Und eines Morgens war plötzlich alles still. Nicht nur über der Stadt, sondern auch im Dementio. Die Phee und ihr frisch operiertes Kind waren verschwunden. Die Anstalt stand verlassen und schwarz da und die diensthabenden Experten schauten mit leeren Augen den Wald an, der das Dementio umgab.«

Razzia
    Als ich aufwache, stelle ich überrascht fest, dass ich nicht mehr auf dem Boden zusammengerollt liege, sondern auf beiden Beinen stehe, wobei sie immer wieder einknicken. Die Arme, die mich am Umfallen hindern, gehören Kojote, der mich kräftig durchrüttelt und dafür sorgt, dass ich in der Senkrechten bleibe. Ich reiße die verklebten Lider auseinander. Hinter Kojotes Rücken herrschen Gerenne und Geschrei, jemand tritt mit bloßen Füßen das Feuer aus, ein anderer klaubt die Decken zusammen und zwei gebückte Gestalten stopfen sich hastig die Reste der mageren Rudelvorräte in den Mund.
    »Razzia, Babyfuß«, brüllt Kojote in mein Ohr und schlägt mich mit der flachen Hand auf die Wange. Obwohl die Bewegung so leicht und fast zärtlich aussieht, habe ich das Gefühl, dass mein Kopf wegfliegt. Dafür bin ich sofort wach.
    Ich weiß, dass ich jetzt losrennen muss, genau wie alle anderen, die in unterschiedliche Richtungen davonschießen wie Strahlen von einer Lichtquelle. Doch das Geratter der nahenden Polizeimotorräder lähmt meine Beine. Die Erinnerung ist plötzlich wieder so nah und lebendig, als wäre es gerade erst passiert. Sie kommen, um mich zu holen, denke ich.
    Vielleicht sind sie aber auch gar nicht meinetwegen hier. Ich war die ganze Zeit sehr gut darin, unauffällig zu sein. Wenn ich bleibe, bin ich trotzdem verloren. Die Experten der Polizei werden jeden verhaften, den sie kriegen können. Sie werden versuchen, die Identität festzustellen. Sie werden mir das Gesicht waschen und vielleicht auch die blasse Spur des ID-Armbands auf meinem Handgelenk entdecken. Sie werden merken, dass ich kein Freak bin, dass ich zumindest früher normal war. Sie werden meine Gesichtszüge einscannen und mit der Fahndungskartei abgleichen. Dann wissen sie, dass ich Juli Rettemi bin, die minderjährige mordende Phee, die allgemeingefährlich ist.
    Und ich kann noch so oft sagen, dass ich das nicht war. Noch so oft protestieren, dass ich keine Schuld am Tod meines Vaters habe. Ich habe etwas Schlimmes getan, aber das, was mir die Normalität vorwirft, ist albern. Doch selbst wenn ich es herausschreien würde – das wird niemanden interessieren.
    Rudolf ist nicht dein Vater, hat meine Mutter gesagt.
    Und sich geweigert, es mir zu erklären.
    »Aufwachen«, brüllt Kojote in mein Ohr. Er packt mich unter den Armen und zerrt mich weg. Meine nackten Füße schleifen über den Asphalt. Ich wundere mich über die Kraft, die dieser schmächtige, unterernährte Junge hat. Alle anderen haben unseren Schlafplatz bereits verlassen, die Lichtkegel der Polizeischeinwerfer durchschneiden die Dunkelheit, gleich haben sie uns gestreift.
    »LOS JETZT!«, schreit Kojote und ich setze mich atemlos in Bewegung.
    Ich weiß nicht, wohin ich rennen soll. Seit ich wieder da bin, zurück aus dem Wald, hab ich nicht die geringste Ahnung, wohin ich jetzt noch flüchten kann. Das Rudel hat mich im Schlafanzug auf der Straße aufgelesen, als ich vergeblich versuchte, mich an den Straßenschildern zu orientieren. Damals kamen mir ihre Gesichter alle gleich vor. Ich registrierte, dass sie über mich stritten, kann aber heute nicht mehr sagen, wer dafür war, mich aufzunehmen, wer mich dagegen lieber zurückgelassen hatte. Ich hatte stumm danebengestanden und gewartet, bis sie sich entschieden hatten.
    Damals ging ich fest davon aus, dass mein Leben vorbei war. Ich hatte alles zerstört, was mir irgendwas
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