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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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weniger als ein Niemand, ich zähle nicht, ich bin verachtenswert und abstoßend.
    Ich sollte mich jetzt auf den Abfalleimer konzentrieren, mache jedoch den Fehler, zur Seite zu schauen. Mein Blick bleibt an einer Plakatwand hängen, sie ist beklebt mit Werbung für nervenstärkende Pillen ganz ohne Nebenwirkungen und natürlich wieder mit Pheen-Warnungen.
    Und mit meinem Gesicht, das gleich dreifach zu sehen ist, weil ein Exemplar dieses Fahndungsplakates offenbar nicht gereicht hat. »Minderjährige Phee – allgemeingefährlich« steht direkt über meinem Scheitel, ironischerweise ist es ein Bild aus dem Jahrbuch des vergangenen Jahres, das mich mit erschrockenen, aufgerissenen Augen, einem mit einer Haarklammer zurückgesteckten Pony und Grübchen auf den noch ziemlich runden Wangen zeigt.
    Ich muss wider meinen Willen lachen, denn die schreienden roten Buchstaben passen zu diesem kindlichen Gesicht ungefähr wie Maniküre zu Kojote. Für einen Moment wird mir schwindlig, aber ich zwinge mich, im Hier und Jetzt zu bleiben, nicht abzudriften in die Erinnerung von etwas, was für mich vermutlich unwiederbringlich verloren ist. Und während Kojote auf einen Mülleimer zusteuert, mache ich einen Schritt auf die Plakatwand zu und reiße blitzschnell eines meiner Gesichter mit den dazugehörigen Buchstaben herunter. Ich rolle das zerfranste Papier zusammen und stecke es in meinen Ärmel.
    Danach ruiniere ich leider den ganzen Trip, denn als ich Kojote an einem aufgeklappten angebissenen Sandwich schnuppern sehe, übergebe ich mich direkt in die Mülltonne.

Gefährlich für die Allgemeinheit
    Am Abend warte ich nicht auf die Strafe. Geprügelt wird selten; meist schicken sie den Schuldigen einfach vom Feuer weg und geben ihm nichts vom gesammelten Essen ab. Während sich das Rudel um die Flammen versammelt, ziehe ich mich lieber von selbst zurück. Ich entdecke ein Stück alte Wolldecke, die offenbar gerade niemand für sich beansprucht, und wickele sie um meine Füße. Ich bin es gewohnt, am ganzen Körper zu zittern und dem Klappern der eigenen Zähne zuzuhören. Das Knistern des Feuers weckt Sehnsucht in mir, nach Wärme und noch viel mehr, aber ich verbiete es mir, dem nachzuhängen.
    Ich darf nicht an das Feuer denken. Wenn ich ihm erlaube, in meine Gedanken einzudringen, dann wird mir sofort heiß. Ich spüre, wie es mit einem Funken in meinem Innern beginnt, wie es meine Haarspitzen versengt, wie meine Wangen sich röten, wie mir der Schweiß ausbricht. Ich könnte das Feuer in meiner Erinnerung willkommen heißen, aber lieber friere ich mich freiwillig zu Tode. Ich will nicht die Zweige der Baumkronen in der Hitze knacken hören, das verzweifelte Rufen der Waldtiere mitkriegen und dabei wieder das Gesicht meiner Mutter vor Augen haben. Meine eigene Stimme: »Auch du hast mich immer angelogen! Ich will mit dir und deinem Wald nichts zu tun haben, du Phee!« Die Stimme meiner Mutter, die mich bittet, nichts von dem zu tun, was ich da gerade tue. Als wüsste ich, was gerade passiert, als könnte ich irgendwas kontrollieren. Ich spüre Flammen der Wut in meiner Brust lodern, ich habe das Gefühl, dass das Feuer mit den Worten meinen Mund verlässt und auf alles überspringt, was mich umgibt.
    Ich schlage mir die Hände vors Gesicht, kühle mit den eisigen Handflächen die erhitzten Augenlider.
    Das abgerissene Flugblatt raschelt in meinem Ärmel, ich ziehe es raus und streiche es auf meinem Knie glatt.
    Gesucht: Juliane Rettemi, minderjährige Phee, allgemein gefährlich.
    Es ist nicht das erste Mal, dass ich darauf stoße. Die Plakate hängen überall in der Stadt herum. Ich sollte mich längst daran gewöhnt haben, trotzdem muss ich mich jedes Mal zügeln, um nicht empört zu protestieren oder loszulachen oder sie wütend herunterzureißen. Die Buchstaben setzen sich zu Worten zusammen, die aus den Krimis stammen könnten, die mein Vater so geliebt hat.
    Nachdem die Phee heimtückisch ihren Vater, den Normalen Dr. Rudolf Rettemi, ermordet hat, fehlt von ihr jede Spur.
    Ich kenne diesen Text auswendig, in manchen Nächten spreche ich ihn nach, um mich daran zu gewöhnen, dass das inzwischen mein Leben ist: Ich bin eine gesuchte Verbrecherin, eine gefährliche Unperson. Für Hinweise, die zu meiner Verhaftung führen, ist eine saftige Belohnung ausgesetzt. Unter anderen Umständen fände ich die Summe fast schon schmeichelhaft. Ich bin es nicht gewohnt, so wichtig zu sein, meinen Namen in den Artikeln zu lesen, die
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