Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs
Autoren: Mikael Niemi
Vom Netzwerk:
 
    Es roch nach offenem Mund. So beschrieb sie es im Nachhinein, es roch nach Mund, als hätte ein großes Tier direkt vor ihr sein Maul aufgerissen. Es fiel ihr schwer, sich etwas Schrecklicheres vorzustellen. Ein vibrierendes, wie mit einer Haut überzogenes Gefühl. Sie blieb zögernd in der Türöffnung stehen, stand dort sommerlich verschwitzt im grellen Licht der Eingangstreppe, den Schlüssel wie ein Taschenmesser in der Hand. Sie hatte mehrere Male geklingelt. Anschließend geklopft. Dann seine Telefonnummer in ihr Diensthandy getippt, ohne eine Antwort zu erhalten. Durch die geschlossene Tür hatte sie das schrille Klingeln gehört, immer und immer wieder, metallische Klingellaute eines alten Telefons aus den Siebzigern mit Drehscheibe.
    Vielleicht war er ausgegangen? Sie nahm den Schlüssel, auf dem die Codenummer des Alten vermerkt war. Später würde Rauha Jauhojärvi immer wieder zu diesem Moment zurückkommen, wie sie dort stand und zögerte. Wie sie krampfhaft die Türklinke in der Hand hielt und ins Dunkle starrte. Sie war kurz davor, umzukehren und zum nächsten alten Mann zu fahren. In ihren Holzschuhen klebten die Füße. Eine Stubenfliege surrte um ihren Nacken, angelockt von ihrem feuchten Menschengeruch. An so einem Tag sollte man im Fluss baden, dachte sie. Im Gras liegen und sich von der Sonne bescheinen lassen.
    Rauha Jauhojärvi zögerte, den Schlüssel in der Hand. Sie konnte immer noch weiterfahren und das Büro benachrichtigen. Die Sonne, das Licht. Die Stubenfliege, die angeschwollenen Füße. Die Hummel, die ihren Blattrüssel das Regenrohr entlangtastete. So ein Augenblick war das. Ganz leicht. Aber sobald sie ihren Fuß auf die Türschwelle gesetzt hatte, war er vorbei.
    Um zu lüften, ließ sie die Tür weit offen stehen. Die Fliege nahm Anlauf und flog sofort hinein. Rauha ging in den Flur und rief den Namen des Alten. Niemand antwortete. Sie spürte, wie der Raubtiergeruch stärker wurde, und unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Talgknödel, dachte sie. Der Alte kocht Talgknödel. Es lag etwas Verbranntes in der Luft, wie von einem Kohlegrill.
    Da entdeckte sie die Flecken. Etwas Teerartiges, das auf den Eichenboden getropft war. Sie bog nach links ab, kam in die Küche. Die Herdplatte war eingeschaltet. Sie zuckte zusammen. Direkt auf der Herdplatte lag etwas Verkohltes, Verschmortes. War das eine Art Muskelfleisch? Ein Fisch? Die Hitze hatte den Klumpen verbrannt und geschmolzen, bis nur noch eine verdrehte Rußwurst übriggeblieben war. Sie rauchte schon lange nicht mehr, aber der fette Bratenqualm hatte sich in den Wänden festgesetzt. Voller Ekel schaltete sie die Platte aus. Alzheimer, dachte sie. Der Alte hat Hunger gehabt und sich etwas kochen wollen. Ohne Bratpfanne. Sie hatte im Laufe der Jahre schon Schlimmeres gesehen, nur ein Glück, dass das Haus nicht Feuer gefangen hatte.
    »Hallo?«, rief sie wieder.
    Die Flecken auf dem Fußboden. Sie kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Ein schmaler Pfad führte durch das Haus, zum Schlafzimmer. Sie wartete regungslos und lauschte. Nichts, alles war still. Nur das Klappern ihrer Holzschuhe, als sie weiterging, sich zur Türöffnung vorbeugte und hineinschaute.
    Er lag halb auf der Seite. Mit weit aufgerissenem Mund und halb geöffneten Augen, das Bettlaken war zusammengeknüllt, als hätte er sich darin gewälzt. Das Bett war von etwas Schwarzem, Geronnenem durchtränkt. Die Hände hatte er auf den Bauch gedrückt, die aufgeschlitzte Bauchdecke klaffte weit auf, und das, was sich darinnen befunden hatte, ringelte sich nun über die Matratze.
    Sie brauchte zwei Sekunden, um das Bild aufzunehmen. Zwei Sekunden, die sich in ihr festgruben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie es nach draußen geschafft hatte, nicht daran, wie sie ihre Holzschuhe verlor. Sie lief auf Strümpfen einfach weiter, die Straße entlang, ließ Schlüssel und Handy fallen, und erst dann fing sie an zu schreien.
     

I
     

1
     
    Die Morgenmaschine aus Stockholm war fast voll besetzt, als sie auf der riesigen Frachtfluglandebahn des Kallax-Flughafen kurz vor Luleå landete. Im Passagiergewimmel gab es drei Personen, die nicht den Langzeitparkplatz oder den Flughafenbus ansteuerten, sondern sich durch das Terminalgebäude bis zu Gate 5 ganz hinten begaben. Im Gegensatz zu den ersten vier Gates lag dieses auf ebener Erde, und statt durch die riesigen Saugrohre an Bord zu gehen, mussten die Passagiere einen kurzen Spaziergang im Freien
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher