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Der Weg ins Glueck

Titel: Der Weg ins Glueck
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Wochen der Ungewissheit
    Rilla las ihren ersten Liebesbrief im Regenbogental, in ihrem geheimen Schlupfwinkel unter den Tannen. Nichts ist für ein junges Mädchen so aufregend wie der erste Liebesbrief, auch wenn er für ältere Leute noch so kitschig klingen mag. Nachdem Kenneths Regiment Kingsport verlassen hatte, folgten zwei Wochen zermürbender Ungewissheit und Sorge, und wenn die Gläubigen sonntagabends in der Kirche sangen »Herr, erhöre unser Fleh’n, hilf den Notleidenden auf See«, dann versagte Rillas Stimme, weil sich ihr bei diesen Worten das schreckliche Bild von einem versinkenden Schiff aufdrängte, das erbarmungslos unter den Schreien und dem Todeskampf der Männer von den Wellen verschlungen wurde.
    Dann kam die Nachricht, dass Kenneths Regiment unversehrt in England angekommen sei. Und jetzt, endlich, hielt Rilla seinen Brief in der Hand. Der Anfang des Briefes machte Rilla überaus glücklich, und der letzte Abschnitt klang so wunderbar und zauberhaft, dass sie vor Freude ganz rot wurde. Der Mittelteil betraf die letzten Neuigkeiten und war so sachlich und unbeschwert geschrieben, dass er genauso gut jeder anderen Person hätte gelten können. Doch der Anfang und das Ende des Briefes waren für Rilla Grund genug, ihn unter ihr Kopfkissen zu legen und wochenlang darauf zu schlafen. Und wenn sie nachts aufwachte, dann glitten ihre Finger unter das Kissen und tasteten danach. Die anderen Mädchen konnten ihr richtig Leid tun. Die Briefe, die sie von ihren Verehrern bekamen, waren bestimmt nicht halb so wunderbar und aufregend Kenneth war nicht umsonst der Sohn eines berühmten Schriftstellers. In seinem eigenen Stil vermochte er die Dinge in wenigen scharfen und treffenden Worten auszudrücken, in Worten, die weit über ihre Bedeutung hinauszugehen schienen. Was er schrieb, konnte man immer und immer wieder lesen, es wirkte nie abgedroschen, langweilig oder dumm. Als Rilla sich auf den Heimweg machte, hatte sie das Gefühl zu fliegen.
    Aber solche erhebenden Augenblicke waren in diesem Herbst die Ausnahme. Das heißt, es gab einen Tag im September, als nämlich die großartige Nachricht kam, dass die Alliierten im Westen einen entscheidenden Sieg errungen hatten. Susan lief gleich hinaus, um die Fahne zu hissen, das erste Mal seit dem Durchbruch der russischen Front und das letzte Mal für viele trostlose Monate.
    »Das ist bestimmt der Anfang des Großangriffs, liebe Frau Doktor!«, rief Susan ganz aufgeregt. »Bald werden die Hunnen am Ende sein. Und das bedeutet, dass unsere Jungen bis Weihnachten wieder zu Hause sind, hurra!«
    Im selben Augenblick, als sie hurra schrie, schämte sich Susan und entschuldigte sich kleinlaut für ihren kindischen Gefühlsausbruch. »Ach wissen Sie, liebe Frau Doktor, diese gute Nachricht ist mir ganz einfach zu Kopf gestiegen nach diesem schrecklichen Sommer mit der Niederlage der Russen und dem Rückschlag von Gallipoli.«
    »Gute Nachricht!«, empörte sich Miss Oliver. »Ob wohl die Frauen, deren Männer dafür sterben mussten, das auch eine gute Nachricht nennen? Bloß, weil unsere eigenen Männer nicht an dieser Stelle der Front stehen, freuen wir uns und tun so, als ob der Sieg kein Menschenleben gekostet hätte.«
    »Liebe Miss Oliver, so dürfen Sie das aber nicht sehen«, sagte Susan tadelnd. »Erstens haben wir in letzter Zeit doch wirklich kaum Anlass zur Freude gehabt, und zweitens können wir nichts mehr daran ändern, dass Männer dabei umgekommen sind. Sie dürfen den Kopf nicht so hängen lassen. Cousine Sophia ist genauso. Als sie von der Nachricht hörte, da sagte sie: »Das ist doch bloß wieder so ein Wolkenloch. Diese Woche schöpfen wir Mut und nächste Woche lassen wir ihn wieder sinken.« - »Hör mal, liebe Sophia Crawford«, habe ich da gesagt - von ihr lasse ich mir nämlich nichts gefallen, liebe Frau Doktor »selbst der liebe Gott kann nicht zwei Hügel erschaffen ohne eine Mulde dazwischen, sagt man, also warum sollten wir nicht das Gute sehen, wenn wir schon mal oben sind?« Aber Cousine Sophia schimpfte weiter. »Die Gallipoli-Expedition war ein Reinfall, der Großherzog Nicholas ist abgesetzt, und jeder weiß, dass der Zar von Russland auf der Seite der Deutschen steht und die Alliierten keine Munition haben und Bulgarien nichts von uns wissen will. Und das Ende ist noch nicht in Sicht, denn England und Frankreich müssen für ihre Todsünden bestraft werden, bis sie in Sack und Asche büßen.« - »Ich denke«, sagte ich,
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