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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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zu wissen scheinen?«
    Laura steht auf und kommt an meine Seite. Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mich jetzt nicht anfasst. Ich will kein Mutter-Tochter-Gespräch mit Tränen und Umarmung. Ich will Information.
    »Ja, so was in der Art«, sagt Laura.
    Ich nicke, ohne mich zu ihr umzudrehen. Und stelle mechanisch fest, dass in diesem Moment der unglaubliche Juckreiz auf meinen Schulterblättern aufgehört hat.
    »Und jemand hat sie mir abgeschnitten«, sage ich, auch meine Stimme klingt mechanisch und hohl wie bei einem Roboter.
    Jetzt nickt sie und ihr Gesicht verzerrt sich.
    »Ich bin die Missbildung, die man operiert hat, um ihr ein normales Leben zu ermöglichen«, sage ich. »Mein richtiger Vater wollte wenigstens das für mich tun, damit ich nicht so auffalle, bevor er uns beide sitzen gelassen hat.«
    Ich wünsche mir dringend, dass Laura mir ins Wort fällt und sagt, die Formulierung sei unmöglich. Aber sie widerspricht mir nicht.
    »Hätte ich fliegen können?«, brülle ich plötzlich los. Dann sehe ich mich um, blicke beschämt in die Gesichter meiner Geschwister. Aber sie schauen mir ruhig und ernst entgegen. Ich atme wieder aus, spüre, wie die Hitze sich wieder von meinen Wangen in mein Inneres zurückzieht. »War ich eine Phee?«
    »Eine Phee ist der Wald in Menschengestalt«, sagt Laura.
    »Jaja, natürlich. Aber was bedeutet das? Sind Kinder von Pheen und Normalen Mischwesen aus Wald und Mensch? Bin ich das? Was haben die mit meinen Flügeln getan?«
    »Die Kinder sind der Versuch des Waldes, mit den Menschen zu leben«, sagt Laura.
    »Auch ich? Bin ich auch ein Versuch des Waldes?«
    »Nein«, sagt Laura. »Du bist das Kind, bei dem der Wald gezeigt hat, dass es kein Zusammenleben mehr geben kann. Du bist das Kind, vor dem sich die Normalität die ganze Zeit gefürchtet hat. Die Ängste sind viel älter als du selbst und du kannst sie in alten Märchenbüchern finden.«
    »Bin ich dafür da, um Dinge zu zerstören?«, frage ich. Wieder sehne ich den Widerspruch herbei, wieder kommt er nicht.
    »Was mache ich ohne meine Flügel?«, frage ich. Plötzlich fühle ich mich verstümmelt. »Bleibe ich jetzt mein Leben lang so, ein Krüppel, ohne das Wichtigste, das mich ausgemacht hat?«
    Laura seufzt. »Hast du es noch nicht gemerkt?«
    »Nein«, brülle ich.
    »Du bist ein Quadrum, Juli.«
    »Was bin ich?« Verstört betrachte ich meine Hände, kneife mir in die Seite, ich lasse mir doch nicht ausreden, dass ich aus Fleisch und Blut bestehe, aus Schmerz und Ungeduld, aus Zorn und Sehnsucht.
    »Du bist, wie du bist«, sagt Laura erschöpft. »Aber zugleich bist du der Zugang zum Wald. »Wo immer du bist, hast du ihn mit und er kann durch dich durchbrechen.«
    »Aaaach so«, sage ich gedehnt, in einem hilflosen Versuch, diesem unglaublichen Gespräch mit Spott zu begegnen. Merke aber, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, dass langsam, aber sicher das Licht um mich ausgeht: Ich werde ohnmächtig.

Die Flucht
    Ich komme im Himmelbett im Schlafzimmer mit der geblümten Tapete wieder zu mir. Es ist ein körperlicher Schmerz, Laura, Kassie und Jaro nicht mehr sehen zu können. Ich hatte mit meinen Geschwistern gar nicht richtig gesprochen. Ich habe sie kaum umarmt. Ich hatte wieder einmal mit meiner Mutter gestritten und sie dabei nicht einmal richtig angeschaut.
    Sie hat endlich mit mir gesprochen. Mir allerdings auch Dinge gesagt, die nicht in meinen Kopf hineinpassen wollen. Ich verrenke meine Arme, um nach den Narben zu fühlen. Sie sind noch da, die vertrauten feinen geraden Erhebungen über der Haut.
    Ich bin ein Quadrum. Der Zugang.
    Das klingt nach Möglichkeiten. Warum liege ich dann immer noch da und überlege, wie ich mich hinausschleichen kann? Ich hatte meiner Mutter an den Kopf geworfen, dass ich hier draußen noch gebraucht werde. Dass es da jemanden gibt, der mich braucht. Jetzt muss ich den Worten Taten folgen lassen.
    Ich setze mich im Bett auf.
    Das Kind ist nicht da – es kommt nur im Traum zu mir. Es gibt niemanden, der mich rufen und leiten würde. Ich muss es allein schaffen. Das Kind bin ich, aber es weiß viel mehr als ich, obwohl es so klein ist.
    Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus in den Garten. Es kommt mir so vor, als wäre die eben noch so ordentliche Wiese überzogen von jungen Bäumchen, die mich an durchbrechende Milchzähne erinnern. Ist es das, was meine Mutter gemeint hat – der Wald kommt durch mich?
    Ich packe die vorbereiteten Sachen zusammen und schließe
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