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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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richtigen Ivan hinter der Maske aus Abscheu und Angst. Ich habe seinen wunden Punkt getroffen. Am liebsten würde ich ihn in die Arme schließen, so sehr tut er mir leid.
    Ausgerechnet jetzt lässt er meine Hand los.
    »Soll ich dir was zeigen?«, fragt er und steckt die Hand in die Tasche.
    Irgendwas in seiner Stimme ist so bedrohlich, dass ich einen Schritt zurückgehe. Ich denke, dass er eine Sprühdose rausholen wird, aber es ist nur ein kleines Kästchen, das er auf seine Handfläche legt und öffnet. Zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger ist ein J eintätowiert, das vorher nicht da gewesen ist. Neugierig schaue ich ins Kästchen hinein. Ich sehe eine kleine zusammengerollte Schlange auf ein paar grünen Blättern.
    »Was ist das?«, frage ich. Ich darf nicht in Tränen ausbrechen, wie es die frühere Juli getan hätte. Denn ich weiß sofort, was beziehungsweise wer das ist. Ich habe keine Worte und deswegen schweige ich einfach.
    »Das ist Ksü«, sagt Ivan. »Das ist das, was von meiner Schwester übrig geblieben ist.«
    »Nein«, sage ich wider besseres Wissen. »Das kann nicht sein.«
    »Oh doch«, sagt Ivan. »Das habt ihr erreicht. Du und deine Familie habt sie mir zweimal weggenommen.«
    »Das muss der Inspiro sein«, sage ich. »Wo ist Ksüs Körper? Warum hat er ihn verlassen? Was hast du mit ihr gemacht?«
    »Ich?«, fragt Ivan leise. »Ich soll was damit gemacht haben?« Er schlägt das Kästchen zu und steckt es wieder in seine Tasche. »Ich sehe nicht ein, warum ich dich verschonen soll, nach all dem, was ihr uns angetan habt. Weißt du, dass mein Vater deine Mutter geliebt hat? Weißt du, dass ich nicht daran glaube, dass die Explosion ein Attentat war?«
    Ich fühle mich, als hätte er mich ins Gesicht geschlagen.
    »Das ist eine Lüge«, sage ich.
    »Das ist mein Verdacht«, sagt er.
    »Ich habe von der Liebe deines Vaters keine Ahnung, aber wie kannst du es wagen zu denken, meine Mutter würde durch ihre Quadren euer Haus explodieren lassen?« Und noch während ich das ausspreche, merke ich, dass ich gar nicht mehr sicher bin.
    Seine Hand verschwindet wieder in seiner Tasche. Diesmal holt er etwas Rundes, Silbriges hervor und richtet es auf mich.
    »Was ist das?«, frage ich. »Wirkt es wenigstens schnell?«
    »Das hättest du vielleicht gern«, sagt er. »Aber am Ende bist du auf jeden Fall tot, versprochen. Du bist nämlich keine Phee, als Experte sieht man das mit bloßem Auge. Dass du noch lebst – da hast du einfach nur Glück gehabt. Glück, dass meine Familie nicht hatte.«
    »Ich kann es nicht glauben«, sage ich. »Kann ich mich so in dir getäuscht haben? Weißt du eigentlich, dass ich die ganze Zeit in dich verknallt war? Dass ich darauf gewartet habe, dass du mir endlich hilfst? Du hast mir doch auch Wasser und was zu essen gebracht oder war das nicht so? Und jetzt sag nicht, dass du nur geschickt worden bist.«
    »Doch«, sagt Ivan. »Ich hätte es eigentlich viel öfter tun müssen, der Leiter des Dementio hatte mich damit beauftragt, um dich bei Laune zu halten. Warum auch immer. Aber ich wollte dir nicht helfen.«
    »Okay«, sage ich. »Dann drück jetzt doch endlich mal auf den Sprühkopf. Kojote hat es sich gleich gedacht, als er gesagt hat, dass du das gleiche Gas benutzt wie die Polizei.«
    Ich straffe die Schultern und sehe ihn an. Schade, wenn jetzt der letzte übrig gebliebene Zugang zum Wald zerstört wird, denke ich. Der Wald wird neue Wege finden müssen. Am Ende kann man ihn nicht besiegen. Aber das alles wird nicht mehr mein Problem sein.
    Ich sehe Ivans Finger zucken und bin bereit, tief einzuatmen. Da dreht er die Dose um und sprüht alles in sein eigenes Gesicht.
    Es dauert lange, bis er tot ist, gefühlt eine ganze Ewigkeit. Ich weiß nicht, was ich für ihn tun kann. Er krümmt sich, aus seinem Mund kommt ein Zischen, er schüttelt den Kopf und versucht etwas Unsichtbares mit den Händen abzuwehren. Die Dose ist aus seinen Fingern herausgefallen und vor meine Füße gerollt. Ich denke daran, sie aufzuheben und noch mal zu sprühen, in der Hoffnung, dass es seinen Todeskampf abkürzt. Aber ich schaffe es doch nicht.
    Wenn ich Zerstörung bringe, müsste es mir gelingen, ihn schneller zu erlösen. Ich betrachte meine hilflosen Hände. Soll ich ihn jetzt würgen? Auf seine Brust springen? Meine eigene Kaltblütigkeit entsetzt mich. Und ich fühle mich immer eisiger, je mehr Sekunden vergehen, in denen ich überlege, wie ich Ivans Qualen abkürzen
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