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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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wirklich auferstanden«, sagt sie.
    »Nein«, sage ich genervt. »Ich war nicht wirklich tot. Es ist egal. Habt ihr noch ein Zuhause? Oder wollt ihr mit in den Wald?«
    Ingrid wischt mir irgendwas vom Gesicht.
    »Wir waren es nicht«, sagt sie. »Wir haben die Polizei nicht gerufen. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen, dass du das dachtest.«
    »Ich weiß, dass ihr das nicht wart«, sage ich schnell. »Das ist unwichtig. Geht ihr jetzt mit oder nicht?«
    »Wir sind normal«, sagt Ingrid würdevoll. »Geh du in den Wald. Sag deiner Mutter…«
    »Was?«
    »Ach«, sagt Ingrid. »Sag ihr nichts.«
    Kojote hat es zu mir geschafft und zieht mich an den Schultern zurück.
    »Geht nach Hause!«, flüstere ich heiser meinen Großeltern zu. »Bitte!« Kojote zerrt mich davon und die Kapuze rutscht mir erneut vom Kopf, eine ältere Frau, die neben mir steht, fährt mir mit dem Ellbogen in die Seite und plötzlich schreit sie los: »Das ist sie! Sie ist hier! Die Phee ist hier!«
    Es entsteht ein wildes Durcheinander aus Armen, Händen, die sich an mir festklammern, Menschen, die sich zu mir durchdrängeln wollen, die mir ihre Bitten zuschreien, während Kojote versucht, ihre Finger von meinen Klamotten zu lösen.
    Sie reißen mich ja wirklich in Stücke, denke ich.
    Dann höre ich Ingrids Stimme vom anderen Ende des Pulks: »Nein, sie ist hier! Die richtige Phee ist hier drüben!«
    Sofort lässt der Druck nach, die Finger lösen sich und die Masse strömt weg von mir, auf Ingrids Stimme zu. Kojote packt mich an der Hand und treibt mich vorwärts, wir treten auf runtergefallene Transparente, meine Porträts, irgendwelche Fläschchen, und ich fürchte, auch auf Hände und Füße. Die Freak-Wachen am Eingang schreien die Menge an und dann höre ich auch das bereits vertraute Zischen der Sprühdosen.
    »Weg von hier, ins Dunkle, je weniger Licht, desto besser«, ruft mir Kojote zu und ich renne und renne, bis mir die Beine wegknicken und die Sicht komplett verschwimmt.
    »Ich habe es satt, die Gejagte zu sein«, schluchze ich, während Kojote neben mir hockt. »Ich kann schon die ganze Zeit keinen Schritt machen, ohne dass irgendjemand mich einfangen will, um mich ins Gefängnis zu werfen, zu töten oder von mir gerettet zu werden.« Jetzt, wo ich jemanden habe, der mir zuhört, kann ich gar nicht mehr aufhören zu jammern. Wahrscheinlich habe ich mich zu lange zusammengerissen. »Ich will meine Ruhe haben und mich endlich erholen. Ich will meine Familie zurück. Ich will in den Wald.«
    »Kannst du haben«, sagt Kojote. »Der Wald ist schon da.«
    »Wie – schon da?«
    »Guck dich doch um.« Er deutet über die Straße. »Die Normalität hat den Kampf aufgegeben. Die Freaks feiern sich und sehen sich durch den Wald bestätigt. Sie denken, er ist auf ihrer Seite.«
    »Wie kann man nur so dumm sein?« Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. »Davon auszugehen, dass der Wald auf der Seite von irgendwelchen bekloppten Revoluzzern ist? Guck, meine Mutter ist ein Kind des Waldes, ich bin angeblich der wandernde Zugang – und trotzdem wäre ich niemals so dreist zu behaupten, dass der Wald auf meiner Seite ist.«
    »Ist er aber«, sagt Kojote. »Als du ins Dementio gekommen bist, haben sich die Dinge überschlagen. Und es war der Wald, der der Normalität den Todesstoß versetzt hat, nicht die Freaks.«
    »Aber schlau von denen, ihn zu einem Verbündeten zu erklären.«
    »Kommt drauf an«, sagt Kojote. »Wenn sie es ernst meinen, sind sie in noch größerer Gefahr. Der Wald macht sie als Nächstes platt.«
    Als er das sagt, fällt mir auf, dass er sowohl meine Bemerkung, meine Mutter sei ein Kind des Waldes, als auch, dass ich ein lebendes Quadrum bin, ohne mit der Wimper zu zucken geschluckt hat.
    »Moment«, sage ich. »Wieso wunderst du dich überhaupt nicht?«
    »Worüber soll ich mich wundern?«, fragt er müde, seine Hand um meine geschlungen, aber diesmal komme ich mir nicht gefangen vor, sondern gehalten.
    »Du weißt sehr viel über den Wald.«
    Er zuckt mit den Schultern.
    »Woher, Kojote? Wer hat dir all die Dinge erzählt, die sonst niemand weiß? Warum bist du so schlau?«
    »Jeder weiß diese Dinge«, sagt Kojote.
    »Aber niemand redet darüber.«
    »Das ist Quatsch, was du da erzählst, Babyfuß. Jeder redet darüber. Und du hast es auch schon tausendmal gehört. Man erzählt sich die Sachen weiter, wenn es dunkel wird, abends beim Feuer…«
    »Aber es wird doch so viel Mist erzählt«, versuche ich, mich zu
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