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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss
Autoren: Alina Bronsky
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ID-Armband sollte. Ich drücke mein Gesicht gegen die Stäbe, stelle mal wieder fest, dass der Abstand viel zu klein ist, um meinen Kopf durchzulassen, und flüstere: »Bitte hilf mir hier raus.«
    Er bewegt seine Lippen und seine Stimme erreicht geradeso meine Ohren.
    »Du musst herausfinden, was für eine Tätowierung die Mitglieder des Hauptquartiers zwischen Mittelfinger und Daumen tragen. Sag mir Bescheid, dann kann ich hier reinkommen und dich rausholen.«
    »Es ist ein J«, sage ich überrascht, während ich Ivans Hand vor Augen habe. »Einfach so ein unvollständiges Häkchen.«
    Er greift in die Tasche, holt einen Filzstift hervor und hält ihn zwischen die Stäbe. »Mal es mir an.«
    Ich schraube die Kappe vom Stift, nehme seine Hand, die er mir entgegenstreckt, spreize seine Finger und zeichne vorsichtig das J an, das ich bei Ivan gesehen habe. Ich kann nicht behaupten, dass es mir gut gelingt, und auch in Kojotes Blick lese ich eine gewisse Skepsis ab. Dann seufzt er und sagt:
    »Das muss genügen. Ich komme jetzt rein. Wir treffen uns an der Blautanne da drüben. Dann gehen wir gemeinsam wieder raus. Mach, was ich dir sage.«
    Ich nicke, nicke, nicke.
    Er löst sich vom Zaun, geht an der schweigenden, stehenden Menge vorbei, nähert sich dem Tor und den bewaffneten Freaks. Er macht ein kurzes Handzeichen, ein unauffälliges Spreizen der Finger, und sie treten beiseite, um ihn durch die kleine Seitentür durchzulassen.
    Dann löse ich mich vom Zaun und renne los, in die Tiefe, zu der Blautanne, die im Moment noch alles andere überragt.
    »Warum tust du das für mich?«, frage ich, als ich ihn da stehen sehe. »Du riskierst dein Leben. Sie sehen so friedlich aus, aber sie meucheln jeden ab, der gegen sie ist.«
    »Du täuschst dich. Sie sehen alles andere als friedlich aus.« Er drückt mich fest an sich, ich sehe überrascht zu ihm hoch, aber er schaut geradeaus.
    »Wir werden zusammen durch die Drehtür gehen. Sie ist ein Stück weiter weg und wird kaum bewacht, weil man durch sie nur rausgehen kann. Mach keinen Mucks, klammer dich an mich, als wäre ich das Einzige, was dir noch geblieben ist, und stell all die Fragen später.«
    Das muss er mir nicht zweimal sagen.
    Es ist fast schon lächerlich, wie schnell es uns gelingt. Die Drehtür lässt uns raus und schlägt uns, weil wir zu zweit nicht schnell genug durchkommen, zum Abschied kräftig auf den Rücken. Kojote will mich wegführen, aber ich bleibe stehen.
    »Ich will mir noch mal die ansehen, die auf mich warten«, sage ich.
    In seinem Gesicht steht ganz klar geschrieben, dass er mich für irre hält.
    »Mich erkennt keiner«, verspreche ich. »Guck dir dieses Mädel auf dem Plakat an, guck mich an. Ich sehe dir ähnlicher als ihr.«
    »Du irrst dich«, sagt er.
    »Bitte, Kojote«, sage ich. »Ich brauche das.«
    Er beißt die Zähne zusammen. Dass er nichts mehr sagt, halte ich für Zustimmung. Ich habe meinen Arm immer noch um ihn geschlungen, als ich mich der schweigenden Menge nähere.
    »Willst du dich dazustellen?«, flüstert Kojote in mein Ohr. »Soll die gute Phee auch dich erlösen?«
    »Halt den Mund«, flüstere ich zurück. »Sonst erlöst sie dich.«
    Ich denke, ich habe genug gesehen, als ich sie entdecke.
    Sie stehen dicht nebeneinander, aber ohne sich zu berühren. Er deutlich größer, aber mit gebeugtem Rücken und herunterhängenden Schultern. Sie klein, aber aufrecht, der silbern glänzende Kopf gibt ihr etwas Freakiges. Sie halten nichts in den Händen, keine Blumen, kein Porträt, keine Kerze, keinen Brief. Sie schauen einfach nur in die gleiche Richtung, auf das Haus.
    »Siehst du sie auch, Kojote?«, flüstere ich.
    Daran, wie er aufstöhnt, merke ich, dass er sie sehr wohl sieht.
    Bevor er es schafft, mich zurückzuhalten, löse ich mich von ihm. Ich arbeite mich zu Ingrid und Reto durch, höre empörte Rufe, einer schlägt mich sogar mit einer Fackel, die wenigstens nicht mehr brennt. Die Menge erwacht aus ihrer Starre, kommt in Bewegung. Nur Ingrid und Reto regen sich nicht, bis ich Ingrid am Ärmel berühre und meine Kapuze vom Kopf werfe.
    Sie dreht sich zu mir um. Dann werden ihre Augen groß. Sie schaut zu Reto auf, deutet dabei auf mich, ihr Mund geht auf und zu wie bei einem Fisch.
    »Lauft schnell weg«, flüstere ich. »Hier gibt es nichts, worauf es sich zu warten lohnt.«
    Sie sehen sich an, dann wieder mich. Ingrid macht einen Schritt auf mich zu und setzt mir blitzschnell die Kapuze wieder auf.
    »Du bist
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