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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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1.
Kapitel
     
     
    Es ist genau 6 Uhr 30, als mein Wecker
loslegt. Damit meine ich nicht die Uhr auf meinem Nachttisch, die ich auf 7 Uhr
15 gestellt habe, sondern das durchdringende Gebell, das durch den Flur hallt.
    Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf
und versuche, noch mal einzuschlafen. Aber davon kann keine Rede sein, denn
dieser Wecker hat keinen Knopf zum Abstellen. Er wiederholt sich in Abständen
von dreißig Sekunden, bis mich mein schlechtes Gewissen überwältigt.
Schließlich ist er seit Mitternacht im Haus eingeschlossen und muss
wahrscheinlich dringend pinkeln.
    Ich rolle aus dem Bett, taumle durch
den Flur und öffne die Tür zum Arbeitszimmer. Elf Kilo Cavalier King Charles
Spaniel liegen startbereit neben dem Hundekorb. Er hat die Hinterbeine weit von
sich gestreckt, sein Schwanz fegt wie eine Startflagge über den Boden. Im Bruchteil
einer Sekunde ist er aufgesprungen und drängt sich zwischen meinen Beinen
hindurch, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Und statt sofort zur
Hundeklappe zu springen, die hinaus in den Garten führt, rennt er nach oben in
die Küche, wobei er unaufhörlich bellt und seine Augen siegessicher blitzen.
    Vielleicht muss George ja wirklich
pinkeln, aber was er jetzt noch dringender braucht, ist sein Frühstück.
    Ich bin wütend auf mich, weil ich auf
den gleichen Trick reingefallen bin wie gestern. Und vorgestern und den Tag
davor ebenfalls, und deshalb gehe ich zurück ins Bett. Aber eine Minute später
erscheint eine feuchte schwarze Nase neben meinem Kopfkissen, dazu zwei weiße
Pfoten mit langen, seidigen Haaren sowie eine Wolke von warmem Hundeatem. »Hau
ab!«, murmele ich unwirsch. Doch George, der sich nicht so leicht geschlagen
gibt, fährt beharrlich in seiner einseitigen Unterhaltung fort. Um diese
Morgenstunde gibt es nur eine Möglichkeit, ihn loszuwerden: Man gibt nach.
    Oben, wo Open-Plan-Küche und Wohnraum
ineinander übergehen, wirft er sich vor dem Kühlschrank auf den Boden so dicht
es irgend geht, ohne die Tür zu blockieren, und starrt mich unverwandt an. Ich
schütte eine großzügige Portion Vollwert-Trockennahrung in seinen Napf und
stelle ihn auf die Schieferumrandung vor dem Kamin, aber statt hinzurennen und
sich sofort darüber herzumachen, rührt George sich nicht von der Stelle. Er
weiß, was in dem Napf ist, nämlich trockene, braune Kekse, auf die er noch
weniger Lust hat als auf die Kaninchenköttel draußen in Hampstead Heath, die so
ähnlich aussehen. Vielsagend rollt er seine Augen in Richtung Kühlschranktür,
dann wieder zu mir. Das, was George will, ist dort drinnen in der großen,
summenden Metallkiste. Und damit ich es auch wirklich verstehe, wiederholt er
das Augenrollen noch zweimal und leckt sich lasziv das Maul.
    Ich muss gestehen, für ein Tier mit
einem solchen Spatzengehirn verfügt George über ein beachtliches
Ausdrucksvermögen.
    Ich werde weich. Schließlich hätte ich
auch keinen Appetit auf diese Kaninchenköttel. Ich öffne die Kühlschranktür und
nehme die Karkasse des Hähnchens von gestern Abend heraus. Während ich ein paar
Fleischstückchen ablöse und in seinen Napf gebe, tanzt George voller Vorfreude
einen Salsa, und als ich den Napf zum Kamin zurücktrage, schlittert er
rückwärts vor mir her, entschlossen, den Napf nicht eine Sekunde aus den Augen
zu lassen. Noch ehe er auf dem Boden steht, hat George die Nase darin
vergraben. Bis ich mich umgedreht habe, hat George auch das letzte winzige
Stück Huhn inhaliert und bellt nach mehr.
    »Tut mir leid, Freundchen«, sage ich
entschlossen, »mehr gibt’s nicht.« Denn obwohl er, genau genommen, nicht fett
ist, ist er doch zweifellos etwas pummelig. Seit er seine Magersucht überwunden
hat, ist er auf Diät, und ich habe dafür zu sorgen, dass er sie einhält.
    George nimmt wieder vor dem Kühlschrank
Aufstellung und bellt die geschlossene Tür hoffnungsvoll an. Ich versuche, ihn
zu ignorieren, und fange an, die Müllhalde zu beseitigen, die mein
siebzehnjähriger Sohn gestern Abend hinterlassen hat: den Pulli, den er
ausgezogen und zwischen die Sofakissen gestopft hat, das Handy neben der Spüle,
die Pokerchips auf dem Kaminsims, die offene Milchtüte, die auf dem Couchtisch
vor sich hin säuert, und die drei Turnschuhe (warum sind es immer drei?), die
wie Fußangeln auf dem Teppich liegen, gerade dort, wo man am wahrscheinlichsten
darüberfällt. Schließlich hört George auf zu kläffen, springt auf einen Sessel
und sieht mich schmollend an.
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