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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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I
    F atal. Ein kurzer Blick auf das Bild genügte, um der dunklen Ahnung der vergangenen Monate Gestalt zu geben. Der Embryo lag gekrümmt wie ein Lurch, ein Auge schaute ihn direkt an. War das da ein Bein oder ein Fangarm über dem Drachenschwanz?
    Momente großer Gewissheit gibt es im Leben nur wenige. Doch in diesem Augenblick sah Henry in die Zukunft. Dieser Lurch würde wachsen, eine Person werden. Er würde Rechte haben, Ansprüche, er würde Fragen stellen und irgendwann alles erfahren, um ein Mensch zu werden.
    Auf dem Ultraschallbild, etwa so groß wie eine Postkarte, war rechts neben dem Embryo eine Grauskala zu erkennen, links Buchstaben, ganz oben das Datum, der Name der Mutter und der Name der Ärztin. Henry hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es echt war.
    Betty saß rauchend neben ihm am Steuer des Wagens und sah Tränen in seinen Augen. Sie legte ihre Hand auf seine Wange. Sie glaubte, es seien Tränen der Freude. Er aber dachte an seine Frau Martha. Warum konnte sie kein Kind von ihm bekommen? Warum musste er jetzt mit dieser anderen Frau im Auto sitzen?
    Er verachtete sich, er spürte Scham, es tat ihm aufrichtig leid. Das Leben gibt dir alles, war stets Henrys Devise, aber nie alles auf einmal.
    Es war Nachmittag. Von den Klippen stieg das monotone Rollen der Brandung auf, der Wind bog die Gräser und drückte gegen die Seitenscheiben des grünen Subaru. Henry musste nur den Motor anlassen, aufs Gaspedal treten, der Wagen würde über die Klippen rasen und tief hinab in die Brandung stürzen. In fünf Sekunden wäre alles vorbei, der Aufprall würde alle drei töten. Dazu hätte er aber vom Beifahrersitz aufstehen müssen, um mit Betty die Plätze zu tauschen. Viel zu umständlich.
    Â»Was sagst du?«
    Was sollte er sagen? Die Sache war schon schlimm genug, dieses Ding in ihrem Uterus bewegte sich bestimmt schon, und wenn Henry etwas gelernt hatte, dann, nichts preiszugeben, was besser ungesagt bleibt.
    In den vergangenen Jahren hatte Betty ihn nur einmal weinen sehen, das war, als man ihm die Ehrendoktorwürde am Smith College von Massachusetts verlieh. Bis dahin dachte sie, Henry würde niemals weinen. Henry hatte still in der ersten Reihe gesessen und an seine Frau gedacht.
    Betty lehnte sich über den Schaltknüppel und umarmte ihn. So lauschten sie schweigend dem Atem des anderen, dann öffnete Henry die Beifahrertür und übergab sich ins Gras. Er sah die Lasagne wieder, die er Martha zum Mittag gekocht hatte. Sie ähnelte einem Embryokompott aus fleischfarbenen Teigklumpen. Bei diesem Anblick verschluckte er sich und begann fürchterlich zu husten.
    Sie streifte die Schuhe ab, sprang aus dem Wagen, zog Henry von seinem Sitz, schloss beide Arme um seinen Brustkorb und presste sie kraftvoll zusammen, bis ihm Lasagne aus dem Nasenloch quoll. Phänomenal, wie Betty ohne nachzudenken das Richtige tat. So standen beide neben dem Subaru im Gras, und der Wind ließ Meerschaumflocken schneien.
    Â»Jetzt sag. Was sollen wir tun?«
    Die richtige Antwort wäre gewesen: Liebling, das hier endet nicht gut. Eine solche Antwort aber hat Konsequenzen. Sie ändert Dinge oder lässt sie ganz verschwinden. Bereuen nutzt dann auch nichts mehr. Und wer will schon etwas ändern, das gut ist und bequem?
    Â»Ich fahre nach Hause und erzähle alles meiner Frau.«
    Â»Wirklich?«
    Henry sah die Verblüffung in Bettys Gesicht, er war selbst überrascht. Warum hatte er das gesagt? Henry neigte nicht zur Übertreibung, alles erzählen wäre nicht nötig gewesen.
    Â»Was meinst du mit alles ?«
    Â»Alles. Ich werde ihr einfach alles sagen.Keine Lügen mehr.«
    Â»Und wenn sie dir verzeiht?«
    Â»Wie könnte sie?«
    Â»Und das Kind?«
    Â»Wird ein Mädchen, hoffe ich.«
    Betty umarmte Henry und küsste ihn auf den Mund. »Henry, du kannst groß sein.«
    Ja, er konnte groß sein. Er würde jetzt nach Hause fahren und Lüge durch Wahrheit ersetzen. Endlich alles erzählen, schonungslos, samt all der hässlichen Details, na, vielleicht nicht aller, aber doch das Wesentliche. Dazu musste er tief ins Gesunde schneiden, Tränen würden fließen, entsetzlich weh tun würde das, ihm selber auch. Es wäre das Ende des Vertrauens und der Harmonie zwischen Martha und ihm – aber auch ein Akt der Befreiung. Er wäre kein ehrloser Lump mehr und müsste sich
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