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Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
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nicht, daß ihm das geschieht. Er ist Ende Zwanzig und nach zwölf Monaten Festanstellung wieder arbeitslos. Er hat kein Interesse daran, sich nach einer neuen Stelle umzusehen, und er will auch nicht wie hunderttausend andere von einem Volontariat zum nächsten wechseln, für einen Hungerlohn sein Bestes tun und hoffen, daß man ihn eines Tages übernimmt. Nein. Auch will er nicht den Job eines Auszubildenden machen, denn er hat eine Ausbildung und ein abgeschlossenes Studium. Seine Einstellungen liegen quer zum Berufsmarkt – er ist schlecht im Betteln undviel zu arrogant für die kleinen Jobs. Aber Kris hat nicht vor, zu verzweifeln. Sein Kopf wird in keinem Backofen landen, niemand wird seine Probleme zu spüren bekommen. Kris ist ein Optimist, und er kann nur zwei Dinge nicht ausstehen: Lügen und unfaires Verhalten. Heute hat er beides zu spüren bekommen, und seine Laune ist dementsprechend. Wenn Kris Marrer jetzt wüßte, daß er sich schon seit dem Erwachen auf ein neues Ziel zubewegt, dann würde sich seine Haltung verändern. Du könntest ihn lächeln sehen. Da er aber ahnungslos ist, verflucht er den Tag und macht sich auf den Weg zur U-Bahn. Er fragt sich, wie man eine Welt geraderücken soll, in der sich jeder daran gewöhnt hat, schief zu stehen.

TAMARA
    Im selben Moment, in dem Kris das Redaktionsbüro verläßt, setzt sich Tamara Berger erschrocken in ihrem Bett auf. Die Zimmerdecke ist nur einige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, und Tamara weiß, daß sie sich nie daran gewöhnen wird. Als würde sie in einem Sarg erwachen. Sie läßt sich in die Kissen zurückfallen und denkt über den Traum nach, der wie ein Echo in ihren Gedanken nachhallt. Ein Mann hat sie gefragt, ob sie sich entschieden hätte. Tamara konnte sein Gesicht nicht sehen, sie sah nur die angespannten Sehnen an seinem Hals. Also versuchte sie, um den Mann herumzugehen, doch sein Kopf drehte sich immer weg von ihr, bis sein Hals diese haarfeinen Risse bekam, die Tamara an ausgetrocknete Erde erinnerten. Schließlich legte sie dem Mann eine Hand auf den Kopf, so daß er ihn nicht mehr wegdrehen konnte. Sie ging um den Mann herum und wurde wach.
    Wir befinden uns im Süden von Berlin, zwei Straßen vom Rathaus Steglitz entfernt. Das Zimmer geht auf einen Hinterhof hinaus, die Vorhänge sind zugezogen, und eine Wespe fliegt unermüdlich gegen das Fensterglas. Tamara weiß nicht, wie die Wespe durch die versiegelten Fenster hereingekommen ist. Der Wecker zeigt 11:19 Uhr. Tamara glaubt es nicht und hält sich den Wecker dicht vor die Augen, bevor sie fluchend vom Hochbett steigt und sich die Sachen vom Vorabend anzieht. Eine Minute später eilt sie aus der Wohnung, als würde das Haus in Flammen stehen.
    Du fragst dich jetzt bestimmt, warum wir uns mit einer Frau aufhalten, der es nicht einmal gelingt, nach dem Erwachen ihr Gesicht zu waschen oder sich frische Sachen anzuziehen. Tamara stellt sich dieselbe Frage, während sie in der U-Bahn ihr Gesicht in einer Spiegelung betrachtet. Als sie heute morgen gegen vier Uhr nach Hause kam, war sie viel zu müde, um sich abzuschminken. Die verlaufene Mascara hat dunkle Spuren unter ihren Augen hinterlassen. Ihr Haar ist strähnig, die Bluse zerknittert und einen Knopf zu weit geöffnet, so daß das V ihres Dekolletés deutlich zu sehen ist. Ich sehe aus wie eine Schlampe , denkt Tamara und vergräbt das Gesicht in den Händen. Der Mann schräg gegenüber reicht ihr kommentarlos ein Taschentuch. Tamara bedankt sich und schneuzt ihre Nase. Sie wünscht sich, sie hätte den ganzen Tag verschlafen.
    Auch wenn es dir im Moment schwerfällt, mußt du darauf vertrauen, daß Tamara Berger ein wichtiges Element in dieser Geschichte ist. Du wirst ihr eines Tages gegenübersitzen und sie fragen, ob sie sich entschieden hat. Ohne sie müßten wir uns jetzt trennen.
     
    Das Arbeitsamt hat geschlossen, Tamara tritt einmal halbherzig gegen die Tür und geht zur nächsten Bäckerei. Sie ißt im Stehen ein belegtes Brötchen und nippt von einem Kaffee, der schmeckt, als hätte er die dritte Nacht auf der Heizplatte verbracht. Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern und will keinen neuen Kaffee aufsetzen. Sie meint, was da ist, muß erst mal getrunken werden. Außerdem hätte sich sonst keiner beklagt. Tamara bedankt sich für den schlechten Service, und als die Verkäuferin sich abwendet, klaut sie ihr die Zuckertütchen. Alle.
     
    Die Wohnung gehört Tamaras Schwester Astrid. Erstes Stockwerk,
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