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Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
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Vorderhaus, Altbau. Nicht schön, nicht häßlich, einfach nur praktisch. Zwei Zimmer gehen nach vorne raus, das dritte Zimmer liegt neben dem Bad und wird von Tamara bewohnt. Es hat einen deprimierenden Ausblick auf einen grauen Hinterhof, der noch nie Sonnenlicht gesehen hat. Im Sommer ist der Gestank der Mülltonnen so schlimm, daß Tamara nachts schon mehrmals würgend erwacht ist. Als sie sich bei ihrer Schwester beschwert hat, meinte Astrid, von ihr aus könne Tamara auch gerne wieder bei den Eltern wohnen. Da hat Tamara den Mund gehalten und die Fensterritzen versiegelt.
    Wir sind Familie , hat sie sich gedacht, so ist das nun mal, man hält den Mund und hofft, daß es eines Tages besser wird.
    Tamara denkt das wirklich. Ihr Vater wurde mit neununddreißig Frührentner, ihre Mutter sitzt tagsüber bei Kaiser’s hinter derKasse, und abends häkelt sie vor dem Fernseher. Tamara hat außer Astrid noch einen älteren Bruder, der irgendwann von zu Hause verschwunden ist, um nach Australien auszuwandern. Die Geschwister sind mit der gutbürgerlichen Philosophie aufgewachsen, daß das Leben niemandes Freund ist und daß man zufrieden sein sollte mit dem, was man hat.
     
    Als Tamara vom Arbeitsamt zurückkehrt, steht Astrid am Herd und rührt eine grüne Creme an. Es riecht in der Wohnung wie in einer Umkleidekabine nach dem Sportunterricht.
    – Hier stinkt’s, sagt Tamara zur Begrüßung.
    – Ich rieche nichts mehr, erwidert Astrid und tippt sich an die Nase. Da drin ist es wie in Tschernobyl.
    Tamara küßt ihre Schwester auf die Wange und öffnet das Fenster.
    – Und? Was ist passiert?
    Tamara würde gerne antworten, daß nichts passiert ist, denn es ist ja eigentlich auch nichts passiert, aber sie weiß genau, was Astrid meint. Also schweigt sie und streift sich die Stiefel ab und hofft, daß sie ohne weitere Fragen davonkommt. Es gibt Tage, da gelingt ihr das.
    Astrid beobachtet jede von Tamaras Bewegungen. Zwischen den Geschwistern hat sich seit der Kindheit nicht viel verändert. Zwar trennen sie vier Jahre, aber niemand sieht den Unterschied. Tamara weiß nicht, ob das für oder gegen sie spricht. Früher wollte sie immer die Ältere sein.
    – Mach nicht so ein Gesicht, sagt Astrid. Eine von diesen großen Buchhandlungen wird dich schon nehmen. Dussmann oder so. Die suchen doch andauernd Leute.
    Astrid hat gut reden. Leute, die einen Job haben, hören immer wieder, daß es überall Jobs gibt. Vor einem Jahr hat Tamaras Schwester sich im Erdgeschoß des Mietshauses ein Nagelstudio eingerichtet. Sie mischt außerdem auf Bestellung Cremes und Gesichtsmasken. Ende des Jahres will sie sich auf Massagen spezialisieren. Astrid führt ihr Nagelstudio allein. Tamara würde ihr gerne helfen, denn für sie ist alles besser, als tatenlos rumzusitzen, aber Astrid findet, daß Tamara überqualifiziert ist.
    Tamara haßt dieses Wort. Es klingt, als hätte sie sich mit dem Abitur eine ansteckende Krankheit eingefangen. Normalqualifiziert ist immer besser, da kann der Arbeitgeber weniger zahlen. Student ist natürlich am besten, aber Tamara hat sich geschworen, nie zu studieren. Sie ist froh, die Schule hinter sich zu haben; sie braucht keine Wiederholung im akademischen Tarnmantel. Dabei erwartet sie nicht einmal viel vom Leben. Sie will nur ein wenig mehr Geld machen, ein wenig mehr verreisen, und ganz besonders will sie, daß es ihr ein wenig bessergeht.
    – Hast du mal bei denen vorbeigeschaut? fragt Astrid.
    – Bei wem?
    – Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Buchhandlung? Groß? Dussmann? Da wird sicher bald was frei, glaub mir.
    Tamara nickt, ohne nicken zu wollen, dann stellt sie sich an den Küchentisch und leert die Zuckertütchen aus ihrer Jackentasche.
    – Schau mal, was ich mitgebracht habe.
    Astrid grinst.
    – Wer ist dir denn schon wieder quergekommen?
    – Jemand aus der Arbeiterklasse, sagt Tamara, küßt ihre Schwester erneut auf die Wange und verschwindet in ihrem Zimmer.
     
    Obwohl sie erst seit dem Frühjahr bei Astrid wohnt, fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Dabei hat Tamara es sich selbst ausgesucht, aber manchmal sagt man ja zum Nein und wundert sich, daß alles so kommt, wie es kommt.
    Könntest du dich bei Tamara im Zimmer umsehen, würde dir auffallen, daß hier jemand lebt, der sich auf der Durchreise befindet. Zwei offene Koffer, aus denen Kleidung quillt, zwei Reihen Bücher entlang den Wänden, keine Bilder, keine Plakate, selbst die Nippes auf dem Fensterbrett fehlen.
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