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Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
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nicht, wenn man Chef zu ihm sagt. Er bevorzugt das entspanntere Boß.
    – Überall wird rationalisiert, spricht Bernd Jost-Degen weiter. Sieh mich an, mir wächst die Scheiße auch schon über den Kopf. Die Strukturen sind nicht mehr dieselben, die Welt hat sich weitergedreht, verstehst du? Früher haben die Leute gute Arbeit geleistet und wurden gut bezahlt. Jetzt müssen sie großartige Arbeit leisten und werden schlecht bezahlt. Und dafür müssen sie dann auch noch dankbar sein.
    Er lacht das Lachen von jemandem, der nicht zu den Leuten gehört. Kris fühlt sich wie ein Idiot und weiß nicht, warum er noch einmal mit seinem Chef sprechen wollte. Zu seinen Füßen stehenzwei Papiertüten, die ihm von der Putzfrau überreicht wurden, nachdem sie seinen Schreibtisch leer geräumt hatte.
    – Das ist Marktwirtschaft, Kris, das ist Überbevölkerung. Es gibt zu viele von uns, und unsere Seelen gehören dem Kapitalismus. Sieh mich an. Ich hänge an Schnüren. Ich bin eine Puppe. Die Leute oben sagen, Bernd, wir wollen den doppelten Gewinn. Und was mache ich? Ich stelle euch billigeres Mineralwasser hin und schleppe den ordinärsten Kaffee an und kürze, wo ich nur kürzen kann, damit die Leute da oben mir nicht die Schnüre kappen.
    – Was redest du nur? fragt Kris. Du hast mich entlassen, du hast mich zu einer Kürzung gemacht.
    Bernd Jost-Degen legt seine Hände übereinander und streckt sie nach vorn.
    – Mensch, Kris, guck doch mal, mir sind die Hände gebunden, schlag mich tot, wenn du willst, aber mir sind die Hände gebunden. Ich muß die Leute gehen lassen, die zuletzt gekommen sind. Natürlich kannst du frei weiterarbeiten. Und wenn du möchtest, schreibe ich dir auch eine Empfehlung, das mache ich gern. Ist doch klar. Versuch es doch mal beim Tagesspiegel , die stehen ja gerade auf dem Schlauch. Oder hast du schon mal an die taz gedacht, bei denen ... Was ist? Wieso schaust du so?
    Kris hat den Kopf schräg gelegt. Seine Gedanken sind auf einen Punkt gebracht. Es ist ein wenig wie Meditation. Bei jedem Einatmen wird Kris größer, und bei jedem Ausatmen schrumpft sein Chef ein wenig mehr zusammen.
    – Du wirst mir doch nicht gewalttätig werden? sagt Bernd Jost-Degen nervös und tritt hinter seinen Schreibtisch. Seine Hände verschwinden in den Hosentaschen, sein Oberkörper lehnt sich zurück, als würde er an einem Abgrund stehen. Kris rührt sich nicht, er beobachtet nur, und würde er jetzt näher an seinen Chef herantreten, könnte er seine Furcht riechen.
    – Tut mir wirklich leid, Mann. Wenn du willst ...
    Kris läßt ihn mitten im Satz stehen und durchquert die Redaktion mit den Papiertüten unter den Armen. Er ist enttäuscht. Bernd Jost-Degen hat nie gelernt, wie man eine Entschuldigung richtig formuliert. Sag nie, es tut dir leid, und versteck dabei die Hände in den Hosentaschen. Wir alle wollen die Waffen sehen, mitdenen man uns verletzt. Und solltest du so lügen, wie Bernd Jost-Degen es eben getan hat, dann geh zumindest einen Schritt auf dein Gegenüber zu und gib ihm das Gefühl, die Wahrheit zu sagen. Heuchel ihm Nähe vor, denn Nähe kann über Lügen hinwegtäuschen. Es gibt nichts Erbärmlicheres als einen Menschen, der sich für seine Fehler nicht entschuldigen kann.
    Niemand blickt auf, als Kris vorbeigeht. Er wünscht sich, die ganze Truppe würde an Ort und Stelle an ihrer Ignoranz ersticken. Ein Jahr lang hat er eng mit ihnen zusammengearbeitet, und jetzt blickt kein einziger auf.
    Kris setzt im Fahrstuhl die Papiertüten auf dem Boden ab und sieht sich im Wandspiegel an. Er wartet darauf, daß sein Spiegelbild den Blick abwendet. Das Spiegelbild grinst zurück.
    Besser als nichts , denkt Kris und drückt den Knopf für das Erdgeschoß.
     
    In den zwei Tüten befinden sich alle seine Recherchen und Interviews der letzten Monate, für die sich kein Mensch wirklich interessiert. Für einen Tag aktuell, danach Abfall, der wieder und wieder recycelt wird. Der Journalismus der Gegenwart , denkt Kris und würde am liebsten den ganzen Haufen anzünden. Als sich die Türen wieder öffnen, tritt er aus dem Aufzug und läßt die Papiertüten auf dem Boden stehen. Sie kippen beinahe gleichzeitig mit einem Seufzer zur Seite, dann schließen sich die Fahrstuhltüren, und es ist vorbei.
    Kris tritt auf den Bürgersteig und atmet tief durch.
    Wir sind in Berlin, wir sind in der Gneisenaustraße. Die WM ist seit neun Wochen vorbei, und es scheint so, als hätte es sie nie gegeben. Kris will
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