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Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
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Angekommensein ist ein Zustand, auf den Tamara wartet. Sie träumt nicht von einer Eigentumswohnung mit Parkettboden und einem Mann, der sie mit drei Kindern beglückt. Ihre Träume sind karg und kraftlos, weil sie nicht weiß, was sie vom Leben will. Sie verspürt keine Berufung, keine Mission lockt sie. Da ist nur der Wunsch, irgendwie reinzupassen, ohne aber richtig dazugehören zu müssen. Für einen Außenseiter mag sie die Gesellschaft zu sehr, für einen Spießer ist sie zu sehr Außenseiter.
    Nachdem Tamara die Zimmertür hinter sich geschlossen hat, lauscht sie in die trügerische Stille. Durch die Wand hindurch ist erst ein leises Keuchen, dann ein lautes Stöhnen zu hören.
    Ich muß hier weg , denkt Tamara und widersteht dem Drang, gegen die Wand zu hämmern. Werner sitzt mal wieder auf dem Klo. Werner ist Astrids gegenwärtiger Freund und verbringt fünf Tage in der Woche bei ihr, obwohl seine Wohnung doppelt so groß ist. Am Wochenende sieht Astrid ihn nicht, denn da zieht Werner mit seinen Kumpels um die Häuser und betrinkt sich so sehr, daß er sich keinem zumuten will. Werner ist Sportlehrer an einer Gesamtschule und hat seit seiner Kindheit Hämor rhoiden. Er sitzt am Tag eine Stunde auf dem Klo und stöhnt. Tamara hört jedes Geräusch. Außer Samstag und Sonntag natürlich.
    Sie steigt auf ihr Hochbett, schnappt sich die Kopfhörer und den historischen Roman, der aufgeklappt mit dem Bauch nach unten neben dem Kissen liegt. Sieben Seiten später geht das Dekkenlicht an und aus, an und aus. Tamara nimmt die Kopfhörer ab und schaut vom Hochbett runter. Astrid steht im Türrahmen und winkt mit dem Telefon.
    – Wer ist dran?
    – Wer soll schon dran sein? fragt Astrid zurück und wirft ihr das Telefon zu.
    Tamaras Herz beginnt schneller zu schlagen. Es gibt Tage, da hofft sie, eine feine, beinahe zarte Stimme am anderen Ende zu hören. Sie weiß, daß das eine alberne Hoffnung ist, dennoch drückt sie den Hörer aufgeregt an ihr Ohr und lauscht. Sie hört ein Atmen, sie kennt dieses Atmen und ist enttäuscht, versucht aber, sich nichts von ihrer Enttäuschung anmerken zu lassen.
    – Rette mich, sagt ihre beste Freundin. Ich pfeife aus dem letzten Loch.
     
    Tamara Berger und Frauke Lewin kennen sich seit der Grundschule. Sie kamen auf dasselbe Gymnasium, schwärmten für dieselben Jungs und haßten dieselben Lehrer. Sie verbrachten fast alle ihre Abende mit der Clique am Lietzensee. Vom ersten Kuß bis zum ersten Joint haben sie hier alles erlebt – Liebeskummer, Heulkrämpfe, politische Diskussionen, Streitereien und abgrundtiefeLangeweile. Im Winter konntest du sie auf den Bänken des Gefallenendenkmals sitzen sehen. Die Kälte konnte ihnen damals nichts anhaben. Sie tranken Glühwein aus Thermoskannen und rauchten die Zigaretten so hastig, als könnte ihnen dadurch warm werden. Tamara weiß nicht, wann die Kälte sie eingeholt hat. Sie frieren jetzt viel schneller, sie jammern mehr, und wenn man sie fragt, warum, antworten sie, daß es doch auf der ganzen Welt immer kälter und kälter würde, oder etwa nicht? Sie könnten auch antworten, sie seien gealtert, aber das wäre zu ehrlich, das sagt man erst, wenn man vierzig ist und zurückschauen kann. Mit Ende Zwanzig ist es nicht sinnvoll zurückzuschauen. Mit Ende Zwanzig durchlebt man seine ganz private Klimakatastrophe und hofft auf bessere Zeiten.
     
    Frauke wartet am Gefallenendenkmal, das wie ein einsamer Monolith aus dem Park aufragt. Sie hat den Rücken gegen den grauen Stein gelehnt und die Beine übereinandergeschlagen. Frauke ist schwarz gekleidet, und das hat nichts mit diesem speziellen Tag zu tun. Frauke hatte in ihrer Teenagerzeit eine Phase, in der sie Gothic verehrte. Das Schwarz ist davon übriggeblieben. An Tagen wie heute erinnert sie an die unschuldigen Frauen in Horrorfilmen, die jeder vor dem Bösen beschützen will und die sich mittendrin verwandeln und die Fangzähne blecken. Sieh sie dir genau an. Du kannst es noch nicht wissen, aber eines Tages wird diese Frau dein Feind sein. Sie wird dich hassen, und sie wird versuchen, dich umzubringen.
    – Frierst du nicht? fragt Tamara.
    Frauke wirft ihr einen Blick zu, als würde sie auf einem Eisberg sitzen.
    – Der Sommer ist vorbei, und mein Arsch ist ein Eiswürfel. Kannst du mir erklären, was ich hier tue?
    – Du pfeifst aus dem letzten Loch, erinnert Tamara sie.
    – Wie ich dich liebe.
    Frauke rutscht, Tamara setzt sich, Frauke bietet ihr eine Zigarette an, Tamara
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