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Sorry

Titel: Sorry
Autoren: Zoran Drvenkar
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voller Plunder, der Lippenstift festgebacken im Mundwinkel.
    – Es ist Monate her, sagt Frauke in den Hörer. Ich weiß nicht einmal mehr, wie du aussiehst. Außerdem ist meine Küche zu klein. Ich hasse es, dort zu kochen, ergibt das für dich einen Sinn?
    Frauke schaut zu Tamara und reckt den Daumen.
    – Was? Wie, wann? sagt sie wieder ins Telefon. Natürlich jetzt.
    Tamara drückt ihr Ohr mit an den Hörer und hört Kris sagen, er fände es nett, daß sie sich melden würden, aber er hätte gerade keine Zeit, sein Kopf würde im Backofen stecken und sie sollten es später noch mal versuchen.
    – Später ist schlecht, sagt Frauke unbeeindruckt. Hast du denn gar keine Lust auf Wokgemüse?
    Kris gibt zu, daß er sich im Moment überhaupt nicht für Wokgemüse in teressieren würde. Er verspricht, sich bald wieder zu melden.
    – Nach der Obduktion, sagt er und legt auf.
    – Was meint er mit Obduktion? will Tamara wissen.
    – Mensch, Tamara, sagt Frauke und schiebt sie aus der Telefonzelle.
     
    Wann immer Tamara an Kris denkt, denkt sie unweigerlich an einen Fisch, den sie im Aquarium gesehen hat. Das war an ihrem zwanzigsten Geburtstag. Frauke hatte von ihrem damaligenFreund Gras besorgt, und der Plan war gewesen, sich vollkommen bekifft die Fische im Aquarium anzusehen.
    – Es gibt nichts Besseres, hatte sie gesagt. Plötzlich versteht man, was so ein Vieh eigentlich ist.
    Sie schlenderten kichernd von einem Raum zum anderen, bekamen mittendrin Heißhunger auf Mars-Riegel und deckten sich an einem Kiosk damit ein, bevor sie den Raum mit dem großen Becken betraten. Eine Handvoll Touristen hatte sich versammelt, Schüler saßen gähnend auf den zwei Bänken. Tamaras Mund war voller Schokolade, als sie nach vorne trat und den Fisch sah.
    Er schwamm nicht. Er schwebte zwischen all den anderen Fischen im Wasser und starrte die Besucher an, die aufgeregt zurückstarrten. Manche zogen Grimassen oder klopften gegen das Glas, so daß die Fische zusammenzuckten und davonschwammen. Den einen Fisch aber ließ das unberührt. Seine Augen waren starr und schauten durch die Besucher hindurch, als wäre sonst niemand anwesend. Tamara dachte damals, dem kann keiner was. Und genau so ist Kris. Dem kann keiner was.
    Sie gehörten damals alle zur selben Clique. Kris und Tamara und Frauke. Da waren auch Gero und Ina, da waren Thorsten, Lena und Mike und wie sie alle hießen. Sie durchquerten die Neunziger wie eine Armada hormongetränkter Seefahrer, die nur ein Ziel vor Augen hatten – eines Tages das heilige Ufer des Schulabschlusses zu erreichen und nie wieder aufs Meer zurückzumüssen. Nach der Schule verloren sie sich aus den Augen. Jahre später fanden sie sich zufällig wieder und waren erstaunt, wie ihnen die Zeit nur so durch die Finger hatte gleiten können. Sie waren keine Seefahrer mehr, sie waren auch keine Schiffbrüchigen, sondern erinnerten an die Leute, die am Strand entlangliefen und das Treibgut einsammelten.
    – Was ist? fragt Frauke und dreht sich zu Tamara um, die noch immer neben der Telefonzelle steht. Worauf wartest du?
    – Bist du dir sicher, daß er uns sehen will?
    – Was ist das für eine Frage? Klar will er uns sehen.
    Tamara hat das letzte Mal zu Silvester mit Kris gesprochen. Kris bezeichnete sie als verantwortungslos und lebensunfähig. Tamara ist zwar verantwortungslos und manchmal auch lebensunfähig,es gab aber keinen Grund, ihr das auch noch unter die Nase zu reiben. Sie hat keine große Lust darauf, sich diese Tirade erneut anzuhören.
    – Heute ist sein letzter Tag in der Redaktion, sagt Frauke, Wolf hat es mir gemailt. Kris muß jemanden sehen, sonst dreht er durch.
    – Das hat Wolf gesagt?
    – Das habe ich gesagt.
    Tamara schüttelt den Kopf.
    – Wenn Kris jemanden sehen will, dann bestimmt nicht mich.
    – Du weißt, daß er es nicht so meint.
    – Wie meint er es dann?
    – Er ... er macht sich Sorgen. Um dich. Und um die Kleine natürlich auch.
    Frauke sagt bewußt nicht ihren Namen. Die Kleine. Kris dagegen sagt den Namen immer, obwohl sie ihn gebeten hat, es nicht zu tun. Und das schmerzt. Über Jenni wird nicht geredet. Jenni ist die Wunde, die immer blutet.
     
    Tamara versucht, Jenni zweimal in der Woche zu sehen. Sie darf nicht mit ihr sprechen. Sie darf sich ihr nicht zeigen. In besonders einsamen Nächten streift Tamara durch den Süden von Berlin, bis sie vor Jennis Zuhause stehenbleibt. Immer gut versteckt, als würde sie auf jemanden warten, schaut sie, ob Licht in
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