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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
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kugelrundes Gesicht und seine Klugheit, die nichts weniger bewies, als dass alles Wissen der Erwachsenenwelt ein Jonglieren mit Wörtern war, nicht mehr aus. Es half wirklich nur noch ein Mittel.
    – Nina, was ich dich fragen wollte –
    Aber in diesem Moment wurde serviert: Ich bekam meine Forelle nach Müllerin Art, mit glänzenden Petersilienkartoffeln, Nina ein undefinierbares Nudelgericht und vor Andreas landete ein Teller mit drei in schmale Streifen geschnittenen gebratenenHühnerbrustfilets, die in einer klaren Sauce schwammen. Das Wunderkind starrte auf sein Essen, dann auf den Teller seiner Mutter, der ein wenig bunter aussah, dann schüttelte es den Kopf. Seine Mutter ignorierte Andreas zuerst, dann schien sie sein Entsetzen zu bemerken.
    – Was ist?
    – Das mag ich nicht, sagte er und sein Gesicht wurde rot.
    – Probier erst einmal. Dann kannst du immer noch –
    – Nein.
    Die ersten Anzeichen aufsteigender Tränen waren in seiner Stimme hörbar. Nina blickte sich ratlos auf dem Tisch um, sah mich an, dann ihren Sohn.
    – Iss, bitte.
    – Nein!
    Andreas’ Verzweiflung war ohne Vorwarnung gekommen. Tränen quollen ihm mühsam, unter viel Augenreiben, aus den Augen. Als seine Mutter ihn immer noch nicht bemitleiden wollte, warf Andreas sein Besteck auf den Fußboden. Seine Mutter hob es auf und legte es, außerhalb seiner Reichweite, auf den Tisch zurück.
    Ich begann zu essen.
    Kurz darauf geschah es: die Demutsgeste, der Kanossagang. Die Mutter beugte sich ihrem Sohn. Sie senkte ihr Haupt, sie näherte ihr Gesicht dem Teller, um die Peinlichkeiten ihres Sohnes schnell aus der Welt zu schaffen, so wie Mütter es üblicherweise mit den Hinterlassenschaften ihrer Kinder tun. Sie nehmen sie, verpacken und verstauen sie an einem geheimen Ort, der die Kinder später, wenn sie erwachsen sind, in ihren Träumen besucht.
    Wie eine Raupe, dachte ich, als ich Nina ansah. Sie war schon im Begriff, den letzten Schritt ihrer Unterwerfung zu tun, die Gabel schwebte über dem ersten Hühnerbrustfilet, da kam es plötzlich:
    – Kein Problem, ich nehme es!
    Nina schaute mich an.
    Warum hatte ich das gesagt? Ich musste den Verstand verloren haben. Der Gedanke, dass ich mich gerade bereit erklärt hatte, Fleisch zu essen, entsetzte mich. Ich würde mich ohne Zweifel übergeben müssen.
    Aber dazu kam es nicht, es kam zu keinen unangenehmen Situationen mehr. Denn in dem Augenblick, da ich meinen verhängnisvollen Satz gesagt hatte, grabschte Andreas mit einem wütenden Schnauben das Besteck vom anderen Ende des Tisches und begann, ohne die schmutzig gewordene Gabel vorher zu reinigen, von seinen Fleischstücken zu essen. Er schaufelte sie mit verbissener Verzweiflung in sich hinein, immer noch den Tränen nahe, weil er nun wirklich jeder Möglichkeit beraubt war, seine Mutter für ihr Verhalten öffentlich zu maßregeln.
    Ninas Gesicht wirkte vollkommen verzaubert: Mitleid für ihren Sohn vermischte sich darin mit einem Ausdruck großer Erleichterung und Befreiung. Nach einer Weile reichte sie Andreas, der ein wenig zu schwitzen begonnen hatte, eine Serviette. Er ignorierte sie.
    Nach dem Essen fragte mich Nina, ob ich noch mit zu ihnen nach Hause kommen wolle. Ich sagte sofort zu. Sie hakte sich bei mir ein, als wir das Lokal verließen. Die Sonne war inzwischen hinter hohen Häusern verschwunden, und es war so kühl geworden,dass Nina ihre Hände in meine Tasche steckte, um sie zu wärmen. Andreas wickelte sich missmutig in seinen langen blauen Wollschal.
    Trotz der Anwesenheit des enttäuschten Kindes, das mich nun erst recht hasste, war ich glücklich über Ninas Vorschlag. Ich wäre nicht mehr gerne allein nach Hause gegangen. Abschiede am Abend haben so viel Unerträgliches. Ich war erleichtert und froh, selbst darüber, dass das Kind vielleicht noch bis zum Schlafengehen um uns sein würde.
    Nina führte uns zur Straßenbahn. Ich wusste den Weg, trotzdem folgte ich ihr.
    Nicht nur die gesteigerte Unerträglichkeit von Abschieden kennzeichnet den Abend, sondern auch die fehlende Lust, sich in der Umgebung zu orientieren und Wege zu finden.
    Das unergründliche Mysterium der Tageszeiten. Die Art, wie ein Saiteninstrument am Morgen anders klingt als zu Mittag oder am Abend. Ein Cello beispielsweise, hellorange am Morgen, gegen Abend dagegen dunkelblau. Selbst wenn es die gleiche Melodie spielt. Deshalb sind auch die frühen Morgenstunden in unserem Leben für Abreise und Abschied reserviert. Der aus dem Schlaf
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