Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
Wärme, Fett, Schweiß, den Informationsaustausch zwischen Hautoberflächen, und hörte das Knistern meiner Bartstoppeln. Bis ans Kinn hätte meine Zunge sowieso nicht gereicht, dachte ich. Also hatte er es nur darauf angelegt, dass ich vor ihm Grimassen schneide. Und natürlich blieb fraglich, ob überhaupt etwas auf meinem Kinn gewesen war.
    Ich starrte Bernd an und versuchte zu lächeln.
    Er machte das Gesicht eines freundlichen Menschen.
Die offizielle Version
. Unter der Oberfläche allerdings überschütteten wir uns körbeweise mit Fehdehandschuhen.

3
Das Essen
    Du sitzt im Bus und denkst nichts Böses, auch nichts Besonderes, schon gar nichts Poetisches. Plötzlich aber hebt hinter dir eine Frau ihr Mobiltelefon ab, seufzt und buchstabiert den geheimnisvollen Wortkomplex »Serotonin Reuptake Inhibitor«. Gleichzeitig fällt dein Blick durch das tropfenverschmierte Fenster auf einen Spielplatz, wo ein erwachsener Mann in kurzen Radlerhosen auf einer Schaukel sitzt und sich hin und her wiegt.
    Gleichzeitig die Erinnerung an die eigene Kindheit.
    Wir hatten einen Hund, Toby, der dann eines Tages in einem Zaun hängen blieb und sich selbst erwürgte. Es war ein seltsamer Hund, der alle Hunde, die ihm nahe kamen, anbellte und verscheuchte. Zum Schluss, nachdem er alle verjagt hatte und ganz allein war, zog er häufig den Schwanz ein, verkroch sich irgendwo und winselte in seinem Versteck vor Einsamkeit. Niemand konnte sich dieses Verhalten erklären. Vielleicht litt der Hund am Tourette-Syndrom.
    Im Bus, auf dem Weg zum Restaurant, wo ich mit Nina verabredet war, las ich das Manuskript einer jungen Kollegin, die es geschafft hatte, in einem Jahr gleich fünf regionale Literaturpreise abzuräumen.
    »Mark und Alexander nehmen mich auseinander.Thomas steht daneben und holt sich einen runter. Es ist kalt. Ich bin zu. Eng. Ganz eng. Jemand kommt. Es ist Thomas. Er ist immer der erste. Ich bin müde. Später weine ich darüber. Weine. Still vor mich hin.«
    Ein paar Seiten weiter: »Ich betrete Neuland. Das Flugzeug bringt mich fort. Weit fort. Es steht in der Luft. Ich bekomme Atemnot. Die stehende Luft. Im Flugzeug. Wie ein Schwanz im Mund. Im Rachen. Ich entschuldige mich. Bei niemandem. Ich bin allein. Wieder allein.«
    Die dreiköpfige Jury des bedeutendsten der fünf Preise lobte die junge Autorin als »nüchtern, präzise, sachlich und sehr erwachsen«. »Eine mutige Neuentdeckung aus dem heimischen Literaturbetrieb. In einer Zeit, da die Worte zu viele sind und die Leerstellen viel zu wenige, ist diese Art erwachsener Berichterstattung aus dem beschädigten Leben einer jungen Frau das Erfrischendste, was man im Augenblick interessierten LeserInnen empfehlen kann.«
    Der Erfolgsroman sollte »Wir-Zeit« heißen, und auch in ihm wimmelte es von dieser seltsamen Signatur unserer Zeit, dem großen I, das aus den unschuldigsten Wörtern herausragt wie ein Zeigefinger.
    Zweifellos ist diese Signatur ein Echo aus früheren Zeiten. In der Barockzeit schrieb man »Herr«, wenn GOtt gemeint war, mit großem H und großem E. Heute freilich verbietet das der Computer und korrigiert die typographische Gottesfurcht automatisch. Den feministischen Kirchturm mitten im Wort lässt er stehen.
    Ich blätterte zurück zum Anfang des Manuskripts. »Wir, das war wieder so ein Wort. Du. Und ich. Wirwaren ineinander. Du und ich. Waren ineinander. Es war nicht dasselbe. Das Wort lag uns zwischen den Lippen. Wir schoben es hin und her. In unserem Schweigen. Das die Zimmer füllte.«
    Die Sätze waren so kurz, dass man das Gefühl bekam, sie mit der Spitze eines Korrekturbleistifts anstupsen zu müssen, damit sie sich entrollen. Aber sie blieben zusammengerollt, kompakt, kleine Raupen, geruchlos und abstrakt. Sie machten winzige Schritte, wie zwei Kinderfinger, die im Sand spazieren gehen.
Ich. Kann nicht. Mehr
.
    Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück. Das hoffnungslose Manuskript verstaute ich in meinem Rucksack, als hätte ich es in einen Müllkorb geworfen. Ich hasse Rucksäcke; von ihnen bekomme ich die schlimmsten Verspannungen.
    Den Rucksack hatte ich nur deshalb mitgenommen, um ihn später, falls sie mich noch zu sich nach Hause einladen würde, in Ninas Wohnung vergessen zu können. Dass er voll mit minderwertiger Literatur war, störte dabei nicht.
    Vor ein paar Tagen hatte ich einen kleinen Text für Nina zu schreiben begonnen, ein Prosagedicht aus lauter Ohrwurm-Sätzen mit dem herrlich behauchten Titel »Air«.
    Im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher