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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
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Restaurant war es dampfend heiß. Ich half Nina aus ihrem leichten Mantel und ihr Sohn trippelte sogleich auf einen Kellner zu, um ihn zu fragen, wo der Tisch sei, den wir reserviert hatten. Der Kellner streckte einen Arm aus, und Andreas – ich konnte nicht anders, als darüber zu lachen – beschirmte die Augen nach Art der Kinder beim Indianerspiel, alser in die angegebene Richtung schaute, über die Köpfe anderer Restaurantgäste hinweg.
    Wir setzten uns an den Tisch und ganz von selbst, ohne dass wir uns darüber verständigten, entstand die Sitzordnung. Der Platz rechts von mir blieb leer. Das Wunderkind schaute mich mit großen unverständigen Augen an.
    Eigentlich komme ich mit Kindern ganz gut zurecht; ich mag sie und sie mögen mich. Eine Zeitlang habe ich sogar daran gedacht, Lehrer zu werden. Aber in diesem Fall war es anders. Ich war für Andreas ein Eindringling, ja gewissermaßen einer, der die enge sakrale Beziehung zu seiner Mutter entweihte. Ich war, man musste es zugeben, ein Ketzer. Aber ich hatte das schon einige Male erlebt, und fast immer hatte ich auch einen Weg gefunden, mich dem Kind als ungefährlich zu präsentieren. Vielleicht würde das universelle Ritual einer gemeinsamen Mahlzeit die Situation ein wenig entspannen.
    Andreas wählte, nach langen geflüsterten Beratungen mit seiner Mutter, etwas aus, das »Hühnchen-Sticks mit scharfer Sauce« hieß. Ich suchte die Speisekarte nach dem vegetarischen Angebot ab. Ich fand es, eingerahmt von einem kleinen grünen Quadrat, einem Gehege, das es von den anderen Speisen fernhielt.
    Nachdem wir bestellt hatten, wagte ich einen ersten, unschuldigen Schachzug. Ich erzählte, dass ich demnächst ein Buch herausbringen würde. Überraschenderweise fragte Andreas nach:
    – Wovon handelt’s?
    Ich schaute ihn wohl einen Augenblick perplex an, dann tat ich sehr besonnen:
    – Ach … na ja… im Grunde davon, was die Menschenuntereinander alles tun. Es wird eine Sammlung von Erzählungen sein.
    – Lebenszugewandt oder lebensabgewandt?
    Himmelherrgott. Ich schielte auf das Krawattenmuster auf meiner Serviette.
    – Was?
    – Sind die Schoatstoris da drin eher lebensbejahend oder -verneinend?, fragte Andreas, in selbstverständlichem Tonfall.
    Langsam bekam ich Angst.
    – Das sind eigentlich weniger short stories – und wie
englisch
ich das Wort aussprach! –, sondern eher längere Novellen, nicht mehr als drei oder vier, die miteinander zusammenhängen.
    Er gab sich einen Moment lang zufrieden. Dann erhellte sich sein uraltes Kindergesicht und er sagte:
    – Daran ist meist die materielle Existenz schuld.
    Ninas Gesicht hatte sich trotz der immer bizarrer werdenden Aussagen ihres Sohnes zunehmend entspannt. Ich beschäftigte ihr Kind, also kam ich allmählich ernsthaft als Partner in Betracht. Aber konnte ich denn auch ein anständiges Gespräch mit dem Wunderkind führen? Die Feuerprobe.
    – Die materielle Existenz?
    – Weil zum Beispiel die … die materielle Existenz war für
die
überhaupt nichts, sagte Andreas. Und außerdem muss man ständig aufpassen, dass man nicht als Tier wiedergeboren wird, wenn man irgendwas falsch macht.
    Es war erstaunlich: Er war nicht einmal über das frühkindliche Stadium hinaus, in dem das Individuum lernt, dass die anderen seine Gedanken nicht lesen können. In der selbstreflexiven Monade seines Verstandes war sein Lieblingsthema aufgetaucht undganz selbstverständlich war er dazu übergewechselt. Ich wusste, aber nur durch Zufall, wen er meinte.
    – Das haben die Albigenser gedacht, oder?
    – Sicher. Und natürlich immer Askese! Und am Anfang vommm … vom dreiz’nt’n Jahrhundert sind sie dann zu brenzlig geworden. Alle zusammen.
    – Brenzlig?
    – Für die Kirche! Die haben sie einfach zusammengetrieben und getötet!
    Ich bildete mir ein, etwas wie Genuss aus seiner lauten Antwort herausgehört zu haben.
    – Einfach so?
    – Ja. Und nur die … nur die Vollkomm’nen sind mit Gott in Verbindung –
    Gott sei Dank fiel irgendwo ein Glas zu Boden. Ich konnte seine hohe Stimme, die sich vor Begeisterung ständig überschlug, weil er sein sinnloses Wissen endlich irgendwo ablassen konnte, nicht mehr hören. Das war also ein Wunderkind? Gab es so etwas mit jeder beliebigen Art von Wissen? Vielleicht ein Wunderkind, das alles über verschiedene Foltermethoden wusste und ihre Abbildungen wie Fußballsticker sammelte? Oder eines, das einem alle Pferdekrankheiten herunterleiern konnte? Ich hielt Andreas’
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