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Die Sehnsucht Meines Bruders

Die Sehnsucht Meines Bruders

Titel: Die Sehnsucht Meines Bruders
Autoren: Joe Waters
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Acht Jahre früher
    „Warum hast du ihn mit nach Hause genommen?“ Ich überprüfte den Sitz meines Pokerfaces ... keinen Augenblick zu früh.
    Robert hob den Kopf, sah mich aus hellgrauen, fast wimperlosen Augen prüfend an, die Hand über der Dame schwebend. Meine Fassade hielt. Schließlich senkte er den Blick langsam wieder auf das Schachbrett, änderte seine Meinung und zog, wie ich es erwartet hatte, den Springer auf meinen König zu.
„Schach.“
    Halbherzig grübelte ich über einen Ausweg aus meiner Lage, hatte aber eigentlich längst aufgegeben. Konnte mich nicht konzentrieren. Heute war ich Vater nicht gewachsen. Resigniert rückte ich den König einfach ein Feld weiter. Wohl wissend, dass Robert gleich seine Dame das Spiel beenden lassen würde.
    „Schachmatt.“ Vater richtete sich auf und lehnte sich gelassen in seinem hochlehnigen Sessel zurück. Das weiche, hier und da vom langen Gebrauch speckig glatte Wildleder gab nicht das geringste Geräusch von sich. Die kleine Stehlampe zwischen uns erhellte nur das Schachbrett, der Rest des Raumes, auch sein Gesicht lag im Schatten. Er war es nicht gewöhnt, so leicht gegen mich zu gewinnen.
    Ich hielt seinem Blick stand, gelassen und ein wenig herausfordernd. „Nun, warum?“
Robert griff zu seinem Cognac. Ließ nachdenklich die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Schwenker kreisen. Während die Stille im Raum, nur unterbrochen vom Knistern des Feuers im Kamin, immer tiefer wurde. „Glaube, ich war einfach neugierig. Ob er den Mut hat zu arbeiten ... wie er den Mut hatte, meine Uhr zu stehlen.“
„ Ich bin dein Schüler, schon vergessen?“
„Du bist siebzehn und clever, viel kann ich dir nicht mehr beibringen. Jetzt musst du Erfahrungen sammeln. Erfahrung ist das Wichtigste in unserer Branche. Alles zu wissen, was je ein Gast fragen könnte. Alle Reaktionen einzuüben auf jede nur denkbare Situation, die plötzlich auftritt. In einem halben Jahr, nach deinem Abschluss, könntest du nach Bozen gehen, in vier, fünf Jahren dein eigenes Hotel auf die Beine stellen, in den Bergen zum Beispiel. Du brauchst nur zuzugreifen und weiter so intelligent und vorausschauend zu handeln wie bisher.“
„Und James?“
„Mal sehen ... vielleicht werde ich ihn irgendwann adoptieren.“
„Weshalb? Du hast schon einen Sohn.“
„Ray, ich liebe dich, das weißt du, und das wird auch so bleiben. Doch dieser Junge ... irgend etwas hat er an sich, das ... weißt du, er hat viel durchgemacht, hat es faustdick hinter den Ohren, aber er hat Charme, Gewandtheit und vor allem viel Mut. Ich möchte ihm eine Chance geben.“
„Du weißt doch gar nicht, wer er ist, woher er kommt.“
„Das wird sich alles finden. Lassen wir es auf uns zukommen, ja?“
Bedauern, aber auch Hoffnung und Unternehmungslust huschten über seine harten Züge. Sein herrischer Mund mit den schmalen blutleeren Lippen schien entspannt. Seine Gestalt, lang und sehnig, hatte noch viel von seiner jugendlichen Kraft und Entschlossenheit. Doch seine dichten schwarzen Haare waren durchsetzt vom Grau des Alters und das immer gebräunte Gesicht durchzogen tiefen Falten.
Natürlich verstand ich ihn, der kleine Bursche würde ihn noch eine Weile jung erhalten. Seit über einem Jahrzehnt war Mutter jetzt tot. Robert hatte sich danach mit einigen kurzen Affären begnügt.
Mutter ... wann hatte er begonnen, sie zu vergessen?
Nach ihrem Tod verkauften wir in Chicago alles, was wir besaßen. Aber auch in einem neuen Haus hätten wir uns nicht wohl gefühlt. Die Stadt, das Land, alles erinnerte uns zu sehr an Mutter. Also flüchteten wir – vor den Erinnerungen. Wir gingen in die Schweiz, von wo Roberts Vorfahren nach Amerika ausgewandert waren. Bauten uns hier ein neues Leben auf.
Mich behandelte er von Anfang an wie einen Erwachsenen, brachte mir alles bei, was ich wissen musste, und übertrug mir schon früh Verantwortung.
Wir waren ein gutes Team, hatten viel erreicht, drei Hotels in der Schweiz, seit kurzem eins in Südtirol – ein gut florierendes Geschäft. Vater war stolz auf mich und ich genoss seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nun war ich siebzehn und würde zum ersten Mal um Vaters Liebe kämpfen müssen.
Hinter uns ging die Tür auf, gleißende Helligkeit durchschnitt das Dunkel des Zimmers. Ein kleiner Junge trat ins Licht. Sein weiches, blond gelocktes Haar leuchtete auf wie ein Heiligenschein.
Anni schob ihn weiter zu uns herein. „So jetzt glänzt er wieder, Mr. Tyninger, Sir.“
James, frisch gewaschen
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