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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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eine Glasscherbe, die versteinert war, weil das Meer sie sich geholt hatte.
    Dieses seltsame grüne, glitzernde Steinchen habe ich mir damals in meinem Schmuckkästchen aufgehoben. Meine Mutter hingegen hob ich mir in einem Zimmer auf, das nicht ihr gehörte, im obersten Stock, dort wo die Maigret-Krimis meines Vaters und seine Kronkorkensammlung nicht zu sehen waren und auch nicht sein T-Shirt mit dem ausgeblichenen Gesicht des lachenden John Lennon über dem Stuhl hing.
    Meine Sachen habe ich in der Wohnung an der Victoria Road gelassen, weil ich dachte, ich brauche sie nicht mehr. Und ich hatte recht. Sechs Tage später rief mich der Vermieter an. »Was soll ich mit deinen Kartons machen?«, fragte er, und ich sagte ihm, er solle sie wegschmeißen, und dann habe ich auch mein Handy weggeschmissen.
    Damals begann die Trauer der Stimmbänder, die langsam zu Stummbändern wurden. Meine Mutter hörte schrittweise auf, zu sprechen, als wäre das eine ganz natürliche und notwendige Phase ihres Lebens.
    Seit Kurzem hatte der Schnee seine vernichtende Arbeit begonnen, ich schaute mir aus dem Fenster die Häuser an, die verschwunden waren wie Erinnerungen. Es war Dezember, doch der Januar war nah, er schuppte sich, warf seine mit Laub und Schlamm bedeckte Haut ab und wurde weiß wie ein Hochzeitskleid, doch zu der Feier waren wir nicht eingeladen.
    Eines Tages, als wäre nichts geschehen, blieb von unserer typischen Aussage um zwei Uhr nachmittags: »Der Kaffee kocht«, nur noch das Wörtchen »Der« übrig, wie das Salz auf der Brust eines Verstorbenen bei einem schottischen Begräbnis. Meine Mutter sagte mit ihrer leisen Stimme aus der Küche »Der«, und ich wusste, dass ich mir dieses Wörtchen aufbewahren musste, so wie man sich den Gesang eines seltenen Vogels merkt. Ich ging in die Küche, die kleine Kaffeekanne brodelte auf dem Herd, vor dem Fenster meuchelte der Schnee gerade das letzte Grün auf den Blumenbeeten, aber es war sowieso schon ziemlich trocken gewesen, dieses Grün, überall Grau dazwischen, wie beim Haar eines alten Mannes, und genau neben dieser Stelle ließen die Leute ihren Müll liegen.
    Auch meine Mutter trat ans Fenster, ihre Augen blickten ausdruckslos. In einer Hand hatte sie die Kaffeetasse, die andere legte sie an die Fensterscheibe, ohne einen Abdruck zu hinterlassen. Willst du ihn oder nicht , nein, das sagte sie nicht, aber so lautete ihre Frage.
    »Nein, Mama, ich will ihn nicht, aber seit wann wäschst du dir eigentlich nicht mehr die Haare?«
    Kurze Zeit später verstümmelte sie immer mehr ihrer Sätze, die alltäglichen Aussagen, von denen du geglaubt hast, sie blieben immer gleich, so wie: »Guten Tag« und »Hast du schon Salz dran?« Selbst von »Hast du schon Salz dran?« blieb nur noch das »dran«. Und dann war auch das verschwunden.
    Meine Mutter redete nicht mehr, kein einziges Wort mehr.
    Vielleicht ist es ja auch deshalb nie Januar geworden.
    Zuerst dachte ich, das Schweigen meiner Mutter sei nur eine Bestrafung für mich. Doch dann kamen eines Tages die Leute von Channel 4, zwei Vierzigjährige, die mit ihren schwimmbadblauen Augen und dem Doppelkinn genau gleich aussahen. »Also, Mrs. Mega, sind Sie bereit für die Aufführung im Grand Theatre?«
    Mrs. Mega gab keine Antwort. Sie trug einen grauen Trainingsanzug, wer weiß, wo sie ihn herhatte, ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Auf der Brust hatte er einen braunen Fleck in der Form eines Fisches, vielleicht ein Kaffeefleck, der aber mehr nach Rost aussah. Sie blieb auf unserem ausgeblichenen Sofa sitzen, zerdrückte mit ihrem Körper die Mohnblumen auf seinem Bezug, so wie man Blüten zwischen die Seiten eines Buches legt, um sie zu pressen, und dann sterben sie, erdrückt von all den Buchstaben.
    »Meine Mutter spielt zur Zeit nicht mehr viel.«
    »Mrs. Mega, sollen wir denn ein anderes Mal kommen, um Sie zu interviewen?«
    Keine Antwort. Nur lange und leere Blicke und diese riesigen, staubigen Blüten unter ihrem Körper.
    Ich brachte die Journalisten zur Tür, machte sie auf, und da war es, dass ich diese rüpelhafte, riesengroße Sonne sah, die rätselhafterweise aus diesem Winterloch aufgegangen war und jetzt direkt vor unserem Haus stand, wie ein flohgeplagter Hund, der hereinwill, um dir die Krümel vom Tisch zu lecken.
    »Nein, die sieht man im Dezember normalerweise nie hier, die Sonne.«
    »Aber hören Sie mal, Miss, wir haben doch schon März.«
    Gesprochen hatte der Dickere von beiden, und sein Mündchen
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